Vom 18. bis 24. April 2018 gibt das goEast-Festival in Wiesbaden zum 18. Mal einen Einblick in die mittel- und osteuropäische Filmszene, Teil 4
Thomas Adamczak
Wiesbaden/Darmstadt (Weltexpresso) - Die Idee zu diesem Film ist verblüffend gut! Vier geschlagene Stunden brauchte es, so der Hauptdarsteller Mateusz Kościukiewicz im anschließenden Publikumsgespräch im Darmstädter Kino Rex, bis sein Gesicht aussah wie nach einer Gesichtstransplantation.
Jacek, die Hauptfigur im Film, freut sich seines Lebens. Er ist Heavy-Metal-Fan mit zu seinem Image passender Kutte. Ein langmähniger Bursche, der auffallen will in dem kleinen polnischen Ort, wenn er mit seiner Autokarre durch die Straßen fetzt und seine Lieblingsmusik bei offenem Fenster so laut stellt, dass von weitem klar ist: Jacek kommt!
Er hat eine zu ihm passende Freundin. Sie tanzen wie in Ekstase, lachen gern und laut und ansteckend. Beim Weihnachtsfest in der Familie bekommt er die Wünsche derjenigen präsentiert, die sich mit dem Leben in der Provinz arrangiert haben: eine ordentliche Frisur soll er sich zulegen, »normal« soll er werden, eine Familie gründen. Seine Mutter möchte endlich Enkel.
Dass es mit der katholischen Hochanständigkeit nicht weit her ist, zeigt dieser Film in krasser Weise, als nach dem Weihnachtsschmaus deftige Zoten und rassistische Witze erzählt und diese brüllenden Gelächters bejubelt werden.
Im Kontrast dazu wird in dem Provinznest die weltgrößte Jesus-Statue errichtet. Größer als die in Rio de Janeiro muss sie sein, damit die Welt erfährt, welch gute Katholiken die Polen sind und wie ernst die Botschaft Jesu genommen wird.
Jacek überlebt einen Arbeitsunfall beim Bau der Statue. Doch sein Gesicht ist völlig entstellt. Eine Gesichtstransplantation ist unumgänglich. Die erste in Polen.
Die Chirurgen haben immerhin eine Art Gesicht hinbekommen, aber es ist, wie man sich denken kann, ein Gesicht, von dem man sich unwillkürlich abwenden möchte.
Im Publikumsgespräch vermittelte Mateusz Kościukiewicz eindrücklich die für ihn völlig neue Erfahrung der Einsamkeit eines Menschen, der spürt, dass er nicht mehr angeblickt, seinem suchenden Blick regelrecht ausgewichen wird. Seine »Fratze«, so der Titel auf Deutsch, erschreckt, stößt ab.
Mehrfach bemüht er sich vergebens um Kontakt mit seiner Verlobten. Ihm gelingt es einfach nicht, den Blumenstrauß, den er besorgt hat, der Geliebten zu überreichen. Als er sie endlich auf einer Hängebrücke, auf der sie sich übrigens vor einiger Zeit das Ja-Wort gegeben haben, trifft, sagt sie, sie könne ihn nicht verstehen.
Jacek spricht nach der Operation nämlich völlig unartikuliert. Sogar die engsten Angehörigen verstehen ihn nicht. Die Mutter besorgt einen Exorzisten, mit dem zusammen sie in einer grässlichen Szene Anstrengungen unternimmt, dem Sohn den vermeintlichen Teufel auszutreiben. Seine Schwester, die als einzige einigermaßen zu ihm hält, spricht das aus, was die meisten empfinden: er hat nach der Operation eine »beschissene Visage«.
Eine der eindrucksvollsten Szenen des Films zeigt, wie Jacek dieses Gesicht im Spiegel betrachtet und versucht, seiner fratzenhaften Maske einen Hauch von mimischer Lebendigkeit abzutrotzen, mit mäßigem Erfolg.
Twarz (poln.), »Fratze« (Gesicht) ist der Eröffnungsfilm des diesjährigen Filmfestivals goEast Wiesbaden. (Weltexpresso berichtete darüber.) Gezeigt wurde der Film auch einen Tag danach im Darmstädter Kino Rex, in Zusammenarbeit mit dem Darmstädter »Deutschen Polen-Institut«.
Das Gespräch mit dem Hauptdarsteller Mateusz Kościukiewicz moderierte der für Presse-und Öffentlichkeitsarbeit des Instituts zuständige Andrzej Kaluza.
Umgang mit dem Fremden, dem Anderen, Menschen zumal, die unsere Sehgewohnheiten und festverwurzelte Vorstellungswelt überfordern, das ist das Thema des Films. Er nötigt dem Zuschauer ab, die erste Reaktion auf das entstellte Gesicht des Darstellers auf sich und damit auch auf das eigene Gesicht zu beziehen.
Zwischen der Ermutigung, das Gesicht zu zeigen, und dem Menetekel, das Gesicht zu verlieren, bieten sich eine Fülle von gedanklichen Wegen, die zu betreten der Film ermutigt.
Am Ende des lebhaften Publikumsgesprächs ging Mateusz Kościukiewicz kurz auf eine soziologische Studie zur Angst vor Fremden und speziell vor Kriegsflüchtlingen ein und kam dann auf die von ihm bevorzugte »Küche« zu sprechen. Sein Lieblingslokal ist in London. Geführt wird es von einem Israeli und einem Palästinenser, deren kulinarische Vorstellungen entsprechend ihrer jeweiligen Herkunft unterschiedlich geprägt sind. Bei einigen Gerichten werden Zutaten verwandt, die auf den ersten Blick nicht zueinander zu passen scheinen, die aber, wenn nur die geeigneten Rezepte Verwendung finden, köstlich harmonieren.
Angeblich unvereinbare Zutaten müssen qualitativ hochwertig sein, erfordern geeignete Rezepte und Köche, die sehr gut kochen können.
Die für eine »gute Küche« geltenden Prinzipien könnten, legte Mateusz Kościukiewicz unausgesprochen nahe, auf das Zusammenleben in der Gesellschaft bezogen werden.
Wir Menschen wären dann in all unserer Unterschiedlichkeit die Zutaten. Vielleicht fehlt es nur noch an den geeigneten Rezepten, damit das, was häufig so unzulänglich funktioniert, besser klappt.
Die internationale Presse, so Mateusz Kościukiewicz, sei voll des Lobes über diesen Film, aber in Polen werde er stark kritisiert. Der linken Seite sei er zu wenig radikal und von rechts wird beklagt, dass er das Ansehen Polens schädige. Die größte katholische Zeitung des Landes, mit einer Auflage von 250 000, ignoriere den Film. Es brauche wohl noch über hundert Jahre, bis sich die polnische Kirche mit solch einem Film konstruktiv auseinandersetzen könne.
Den Veranstaltern von go EAST ist zu gratulieren, diesem Film einen bevorzugten Platz beim diesjährigen Festival zugewiesen zu haben. Anzuerkennen und ausgesprochen erfreulich ist, dass neben den Spielorten in Wiesbaden etliche Filme in Frankfurt, Darmstadt, Mainz und Gießen gezeigt werden.
Übrigens: die großartige Idee von go EAST sollte dazu führen, dass an anderen Orten Festivals zu go South, go West und go North in Angriff genommen werden.
Foto:
© Verleih
Info:
Małgorzata Szumowska als Regisseurin und Drehbuchschreiberin gewann für diesen Film auf der Berlinale 2018 den
Silbernen Bär/Großen Preis der Jury
https://www.filmfestival-goeast.de/de/