Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 24. Mai 2018, Teil 15
N.N.
Paris (Weltexpresso) - Ein Jahr nach DER WERT DES MENSCHEN (LA LOI DU MARCHE) präsentieren Sie bereits einen neuen Film.
EIN LEBEN wurde vor DER WERT DES MENSCHEN geschrieben. Finanziert wurde er, während wir letzteren geschrieben und gedreht haben. Die beiden Filme folgten direkt aufeinander, die Idee für diesen Film entstand aber bereits vor zwanzig Jahren, als meine Ko-Autorin Florence Vignon mich auf den Roman aufmerksam machte.
Mit dieser Geschichte einer jungen Frau aus dem 19. Jahrhundert sind wir weit entfernt von dem Langzeitarbeitslosen aus DER WERT DES MENSCHEN.
Die Rahmenbedingungen sind verschieden, doch sehe ich zwischen allen meinen Filmen eine Verbindung. Auch zwischen diesem und dem vorhergehenden. Jeanne und Thierry, die von Vincent Lindon verkörperte Figur, haben beide eine hohe Erwartung an das Leben. Thierry drückt diese aus, indem er sich einer unerträglichen Situation verweigert, Jeanne tut dies durch ihr extremes Menschenvertrauen. Da die Rahmenbedingungen so weit voneinander entfernt sind, sind natürlich auch die Geschichten verschieden. Doch sehe ich jenseits von Epoche und sozialem Status zwischen beiden Figuren eine Verbindung.
Gibt es eine Verbindung zwischen Jeanne und Ihnen?
Ich finde Jeannes Blick auf die Welt in mir wieder. Jeanne tritt in die sogenannte Welt der Erwachsenen ein, ohne sich aus dem Paradies der Kindheit verabschiedet zu haben, jenem Lebensabschnitt, in dem alles vollkommen erscheint, in dem die Erwachsenen die Wissenden sind, jene, die sagen, dass man nicht lügen darf, und die deshalb, so denkt man, auch nicht lügen. Jener Lebensabschnitt, in dem man die Dinge ohne Hintergründe betrachtet. Mit zunehmendem Alter modifiziert sich dieses Ideal, manchmal bis zur völligen Ernüchterung. Um sich davor zu schützen, bedarf es bestimmter Schutzvorkehrungen. Man muss durchschauen, welche Mechanismen die Menschen miteinander verbinden, eine gewisse Distanz wahren, ohne angesichts der Brutalität der menschlichen Beziehungen in völlige Desillusionierung zu verfallen.
Jeanne findet offensichtlich nicht zu dieser Distanz.
Jeanne will oder kann ihren Blick auf das Leben nicht verändern. Das macht sie zu einem besonderen, einem wunderbaren und seltenen Menschen, denn sie kennt keine Hintergedanken. Doch was ihre Anmut ausmacht, ist auch ihr Verhängnis. Genau dieses Paradox fasziniert und berührt mich.
Wie sind Sie auf Judith Chemla gestoßen?
Ganz klassisch, bei einem Casting. Ich glaube nicht an den Begriff der Figur, ich glaube an den Menschen. Und ich wusste, dass ich ein besonderes Verhältnis zur Welt einfangen musste. Judith ist nicht Jeanne, doch sie hat ein extrem intensives Verhältnis zu ihrer Umgebung. Sie sieht, was andere nicht mehr sehen können, sie fühlt, was andere nicht mehr zu empfinden wagen. Sie ist stets um die Wahrheit bemüht. Sie ist eine großartige Schauspielerin, aber vor allem ist sie eine außergewöhnliche Person. Und genau das filme ich: ihr Verhältnis zur Welt. Und ihr verblüffendes schauspielerisches Talent liegt in ihrer unglaublichen Verfügbarkeit. Sie fürchtet nicht einmal die dunkelsten Winkel der Seele.
Der Film beginnt, als Jeanne etwa 20 Jahre alt ist, und endet 27 Jahre später. Sie waren noch nie mit einer Geschichte befasst, die sich über einen so langen Zeitraum erstreckt.
Das war tatsächlich neu für mich. Und nachdem wir die erzählerischen Probleme im Drehbuch geregelt hatten, stellte sich vor allem die Frage nach Maske und Haartracht. Ausgerechnet ich, der auf Realismus schwört, setzte mich plötzlich mit etwas auseinander, das völlig unrealistisch erscheinen mag: wie lässt man ein Gesicht durch Schminke jünger und älter erscheinen. Das war das Erste, was wir an Judith und Jean-Pierre Darroussin ausprobiert haben (ich erwähne Nina Meurisse nicht, da sie damals noch nicht besetzt war). Wenn wir das nicht überzeugend hingekriegt hätten, hätte ich den Film nicht gemacht. Ich wollte nicht, dass man etwas sieht, nichts, das man nicht in Großaufnahme drehen konnte, nichts, was nicht echt wirkt. Als ich Jeanne und ihren Vater zum ersten Mal zunächst jung und dann alt sah, war ich verblüfft. Die Hairstylistin und die Maskenbildnerin sind talentiert, doch damit jemand in einem Film jünger und älter erscheint, bedarf es mehr, weit mehr. Die Beleuchtung muss stimmen, doch die beiden spielten nicht nur jüngere oder ältere Menschen, sie waren tatsächlich jünger oder älter. Ich weiß nicht, wie sie das hingekriegt haben, aber ihre Körper veränderten sich völlig, ihre Energie war eine ganz andere.
Sie haben Jean-Pierre Darroussin erwähnt. Lassen Sie uns auch von Yolande Moreau sprechen, die seine Frau spielt.
Natürlich, denn wir mussten ein glaubhaftes und harmonisches Ehepaar präsentieren. Jeannes Persönlichkeit ist die Frucht der Persönlichkeiten ihrer Eltern. Der Vater ist ein bodenständiger Mann, der seinen Garten pflegt, und die Mutter flüchtet sich in ihre Erinnerungen. Sie sind beide etwas weltfremd, sehr sanft, sehr poetisch. Auch spielen Yolande und Jean-Pierre zwei Menschen, die ihrer Zeit voraus sind, denn vor der Heirat ihrer Tochter fragen sie sie nach ihren diesbezüglichen Gefühlen. So etwas war damals sehr selten. Im Roman erwähnt Maupassant sogar die Rousseausche Philosophie des Vaters. Und das hat mich an der Geschichte interessiert. Denn da Jeanne die Wahl hat, zu heiraten oder nicht, mache ich kein Thesenstück zur Lage der Frau im 19. Jahrhundert. Was ihre Entscheidung beeinflusst, ist allein ihr Verhältnis zur Welt und zu ihren Eltern. Was sich hier abspielt – der Einfluss der Mutter, die Feigheit des Vaters, die Schuldgefühle von Jeanne – wird also universell und zeitlos. Die Geschichte geht jeden etwas an.
Wie bei jeder Romanverfilmung gibt es natürlich Unterschiede zum Buch. Wie gehen Sie das an?
Nach MADEMOISELLE CHAMBON ist das meine zweite Romanverfilmung. Damals wurde mir klar, dass man betrügen muss, um treu zu bleiben. Was in Hinsicht auf Jeannes Geschichte ironisch erscheinen mag. Doch dieser Roman ist ein Gebirge. Nicht an Umfang, sondern an reiner Literatur. Es ging also darum, sich vom Literarischen zu lösen, um Kino daraus zu machen. Das ist höchst kompliziert. Denn der Roman von Maupassant ist so durchstrukturiert, der Stil nimmt einen so großen Raum ein, dass man sich davon nur schwer befreien kann. Man behält das erzählerische Gerüst bei, muss aber der literarischen Kraft den Hals umdrehen, um sich einer filmischen Erzählweise anzunähern.
Sie sagen, dass man betrügen muss, um treu zu bleiben. Was ist der größte Betrug, den Sie sich hier erlaubt haben?
Der große Unterschied zwischen Buch und Film liegt in der Erzählperspektive. Der Film wird ausschließlich aus Jeannes Perspektive erzählt. Es gibt keine Szene, in der sie nicht anwesend ist. Jede Figur tritt nur auf, wenn sie auch da ist. Das hat dazu geführt, dass wir eine wichtige Sache ändern mussten: Juliens Tod. Im Buch stürzt Monsieur de Fourville den Karren, in dem sich das heimliche Liebespaar Julien und Gilberte versteckt, von einem hohen Felsen. Die beiden Liebenden schlagen unten auf den Klippen auf und sterben. Dieser Mord ist unverständlich, wenn man ihn nicht zeigt. Doch die Regel der subjektiven Perspektive von Jeanne verbot uns das. Sie konnte nicht Zeugin dieser Tat sein. Wir mussten also eine Lösung finden, damit man versteht, dass Monsieur de Fourville das Liebespaar getötet hat, bevor er Selbstmord beging. Wobei von seinem Tod im Roman gar nicht die Rede ist. Eine Adaption ist eine Aneignung. Man muss ein literarisches Werk in einen Film verwandeln. Die Mittel unterscheiden sich unglaublich. Nicht zu vergessen die Zwänge, die sich bei dieser Art von Arbeit ergeben, da viele Zuschauer sich an hervorstechende Ereignisse der Erzählung erinnern. Man muss also sehr frei einen filmischen Weg beschreiten, der mit den starken Momenten der Geschichte, die zum Roman gehören, verbunden ist.
Die Erzählstruktur des Films unterscheidet sich von der des Romans.
Die große Herausforderung ist die Vermischung der Zeitebenen. Vorausblende, Rückblende, Rückblende innerhalb der Rückblende... Im Roman gibt es dieses zeitliche Hin und Her nicht, das ist ein wichtiger Unterschied. Die Montage unterscheidet sich hier stark von der meiner anderen Filme. Trotzdem bin ich mir stets bewusst, dass ich, um mir bestimmte lange Einstellungen erlauben zu können, die Geschichte dynamisieren muss. Das bleibt gleich. Wobei ich immer dafür sorgen muss, dass ich den Zuschauer trotz einer komplexeren Erzählstruktur nicht verliere. Doch diese Struktur sorgt auch für ein Zeitempfinden, das viel passender ist als bei einer chronologischen Erzählweise. Die Gegenwart wird von der Vergangenheit beleuchtet und umgekehrt. In Jeannes Wahrnehmung ist alles ineinander verschlungen, und der durch sehr brutale Ellipsen entstehende Stapelungseffekt verdeutlicht die vergehende Zeit. Wir wechseln von einer Zeitebene zur nächsten, so wie der Verstand von einer Erinnerung zur nächsten übergeht. In jedem Moment vermischt der Verstand Gegenwart und Vergangenheit. Letztlich ist das Leben gar keine so chronologische Abfolge von Ereignissen. Wir mussten diesen Wirrwarr erzeugen, um das, was Maupassant mit seinen schriftstellerischen Mitteln beschreibt, zu veranschaulichen.
Das bedeutet auch, dass Sie zu verschiedenen Jahreszeiten drehen mussten.
Ja, diese Notwendigkeit haben die Produzenten wunderbarerweise von Anfang an akzeptiert. Wir mussten organisch und physisch zeigen, wie die Zeit im Wandel der Jahreszeiten vergeht. Wenn man mit den älter werdenden Körpern immer wieder auf die gleichen Jahreszeiten zurückkommt, erzeugt man ein stärkeres Gefühl für das Vergehen des Lebens. Auch sollte sich in der Natur Jeannes Psychologie widerspiegeln. Denn sie ist organisch und psychisch mit den Elementen verbunden. Sie bilden eine Einheit.
Von der ersten Einstellung an fallen zwei Dinge auf: das beinahe quadratische Format 1,33:1 und die Handkamera.
Das Format 1,33:1 sperrt Jeanne sozusagen in eine Schachtel (ihre eigene Geschichte), aus der sie sich schwer, ja sogar unmöglich befreien kann. Natürlich haben wir auch Cinemascope in Betracht gezogen. Ich habe diese Möglichkeit ausprobiert. Doch abgesehen davon, dass es Jeannes Gefängnis nicht veranschaulichte, führte es uns paradoxerweise auch zu sehr in Richtung Klassizismus. Ich sage paradoxerweise, weil das Cinemascope ein modernes Format ist. In Verbindung mit den Kostümen erzählt das Breitwandformat im kollektiven Unbewussten eine klassische Geschichte, gegen die wir ankämpfen mussten, um der Geschichte ihre Aktualität zu verleihen.
Die Handkamera vermittelt das Pulsieren von Jeannes Innenleben. Auch wenn sie am Boden zerstört ist, sagt mir das leichte Vibrieren des in einer festen Einstellung gedrehten Bildes, dass sie noch am Leben ist. Ich mag es, wenn eine Einstellung, wie übrigens auch der Schauspieler, stets etwas aus dem Gleichgewicht ist. Ich mag es, wenn der Kameramann in jeder Sekunde intuitiv seine Cadrage in Frage stellt, sie permanent dem eigenen Atem und dem Atem des Schauspielers anpasst, auch wenn es gar nicht wahrnehmbar ist. Das eher in der Vergangenheit verwendete Format (auch wenn es heute immer wieder auftaucht, nachdem es fast völlig verschwunden war) ergibt in Verbindung mit der Handkamera eine interessante Kombination, die zur Verdeutlichung der Zeitlosigkeit und letztlich der Aktualität der Geschichte beiträgt.
Wie verlief die Zusammenarbeit mit Ihrem Kameramann?
Dieser Film ist meine dritte Zusammenarbeit mit Antoine Héberlé. Er nimmt in dem ganzen Gefüge einen entscheidenden Platz ein. Während der Vorbereitung und auf dem Set folgt er unvoreingenommen meinen Überlegungen und Intuitionen. Ich schreibe die Partitur, doch wie die Schauspieler ist Antoine der Interpret. Sowohl was die Technik, als auch was die Cadrage und die Kamerabewegungen angeht. Er weiß auch, dass bei mir auf dem Set nichts feststeht. Ich kann mich für eine Achse entschieden haben und sie im letzten Moment wieder ändern, denn die Wahrheit des Sets ist stärker als die Wahrheit auf dem Papier. Ich passe mich ständig an und Antoine folgt mir. Sein wunderbares Licht schränkt auf dem Set nichts ein, lässt jede Bewegung zu, entspricht ganz der Mobilität, die ich brauche.
Lassen Sie uns über die Musik sprechen.
Das Instrument, das zum Einsatz kam, ist ein Pianoforte, der Vorgänger des heutigen Klaviers. So wie die Handkamera ein Zögern bei der Cadrage erzeugt, hat der Ton hier etwas weniger Präzises als bei einem modernen Klavier. Das Instrument erzeugt, unabhängig von der Melodie, seine eigene Melancholie. Ich habe mit Olivier Baumont zusammengearbeitet, einem großen Cembalisten, der mir vor einigen Jahren die Barockmusik nahegebracht hat. Er hat mir zunächst verschiedene Stücke vorgespielt, einige davon haben wir aufgenommen und schließlich kamen wir ganz wie von selbst auf eine Passage aus La Pothouin von Jacques Duphly. Um bestimmte geistige Irrwege von Jeanne zu verdeutlichen, ließ ich ihn das Stück auf eine nicht ganz so strukturierte Weise spielen. Auch hat Olivier ein Thema komponiert, das im Film zu hören ist. Es war seine erste Erfahrung mit dem Kino.
Was ist das für ein Gefühl, sich auf ein Projekt zu stürzen, von dem man so viele Jahre geträumt hat?
Es ist beunruhigend. Man fragt sich manchmal sogar, ob man das Recht hat, einen solchen Traum zu verwirklichen. Das ist mir vor allem passiert, wenn es Schwierigkeiten beim Dreh gab. Dann hatte ich den Eindruck, dass sich der Roman rächt, dass er mich eine Weile lang gewähren ließ, mir aber nun zeigt, wer der Herr im Haus ist. Es war ein Armdrücken mit dem Werk. Ich durfte mich nicht von der Sprache durchdringen lassen, sondern von dem, was jenseits der Sprache liegt. Die Sprache eines Romans ist übrigens ein schreckliches Paradox. Sie hat bewirkt, dass mich die Geschichte berührt, und zugleich ist sie mein schlimmster Feind. Denn man darf dem Autor, dessen Roman man verfilmt, nicht folgen, man muss gegen das, was er schreibt, ankämpfen. Man muss sich anhören, was er vorschlägt. Es ist ein seltsamer Kampf. Das einzige, was ich nach all der Zeit bereue, die ich mit Jeanne verbracht habe, ist, dass ich das Buch von Maupassant bestimmt nicht noch einmal lesen werde.
Foto:
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Info:
Darsteller:
Jeanne Judith Chemla
Der Baron Jean-Pierre Darroussin
Die Baronin Yolande Moreau
Julien Swann Arlaud
Rosalie Nina Meurisse
Der Abt Picot Olivier Perrier: