Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) - Es gehörte immer zur Programmatik des Forums, Filmgeschichte aus der Perspektive des Gegenwartskinos zu betrachten. Lebendige Archivarbeit schafft Neues.
Immer mehr Filme werden digitalisiert und restauriert. Dadurch wird es nicht nur möglich, signifikante Momente des Kinos wieder in Erinnerung zu rufen, sondern auch bestehende Filmgeschichtsnarrative in einer Gegenwart zu überprüfen, die von Transmedialität und Globalisierung geprägt ist. Die Überschrift „Archival Constellations“ ist Ausdruck des Wechselverhältnisses zwischen alt und neu, und verweist auf Kooperationen und Solidargemeinschaften in einem Prozess, in dem durch Digitalisierung Filmgeschichte umgeschrieben wird.
Neue Filme zur Filmgeschichte
Callisto McNulty porträtiert mit ihrem Film Delphine et Carole, insoumuses (Delphine and Carole) die Filmemacherin Carole Roussopoulos und die Schauspielerin Delphine Seyrig, die in den 1970er und 80er Jahren die neue Videotechnik nutzten, um an der Seite der Frauenbewegung zu kämpfen. Ergänzend dazu laufen Sois belle et tais-toi ! (Be Pretty and Shut Up!, 1976), in dem Delphine Seyrig 24 französische und US-amerikanische Schauspielerinnen zu ihren Erfahrungen als Frauen im Filmbusiness interviewt, sowie Maso et Miso vont en bateau (Maso and Miso Go Boating, 1975) des feministischen Kollektivs „Les Insoumuses“ zusammen mit S.C.U.M. Manifesto 1967 (1976), ebenfalls von Roussopoulos und Seyrig, der eine Lesung von Valerie Solanas gleichnamigem Manifest inszeniert.
Mariam Ghani widmet ihren Dokumentarfilm What We Left Unfinished fünf unvollendeten Filmen, die zwischen 1978 und 1992 im Wechsel der verschiedenen kommunistischen Regime in Afghanistan entstanden sind, als eine hohe Produktivität Zensur und Propaganda gegenüberstand. Zusätzlich wird einer der populärsten afghanischen Filme, der jedes Jahr zum Opferfest ausgestrahlt wird, gezeigt: Hamas-e eshq (Epic of Love, 1984) von Latif Ahmadi ist ein historisches Epos über die Fehde zwischen zwei Familien. Der Spielfilm Baba von Juwansher Haidary (1989) läuft zusammen mit dem aus Newsreel-Material bestehenden Khan-e tarikh (The House of History, 1996) von Qader Tahiti.
Aus der Geschichte des Forums
Viele Filme aus der Geschichte des Forums waren Teil einer Gegenbewegung, sie wollten ästhetische, gesellschaftliche oder politische Veränderung. Mit diesem Bestreben haben sie nicht nur das Forum geprägt, sondern auch die Kinolandschaft. Fünf dieser Filme wurden in den vergangenen Monaten restauriert und gelangen nun zur Wiederaufführung:
Zwei Dokumentarfilme aus dem Forums-Jahr 1982 befassen sich mit Unterdrückung und Verdrängung indigenen Lebens: Als zentrales Werk des politischen Kinos gilt Nuestra voz de tierra, memoria y futuro (Unsere Stimme aus Erde, Erinnerung und Zukunft) von Marta Rodríguez und Jorge Silva (Kolumbien 1981). The Second Journey (To Uluru) (1981) von Arthur und Corinne Cantrill ist eine experimentelle Annäherung an einen gewaltigen Sandsteinmonolithen im Herzen Australiens, Heiligtum der lokalen Indigenen.
1984 sorgte ein feministischer Noir, gedreht auf körnigem 16-mm-Film, für Gesprächsstoff. Variety von Bette Gordon (1983) kommt jetzt als 35-mm-Kopie zur Wiederaufführung. Das Drehbuch dazu schrieb Kathy Acker. Unvergesslich ist auch Derek Jarmans The Garden (1990), eine zwischen Horror und Humor changierende Version der Passion Christi.
Spätestens seit der Uraufführung von Béla Tarrs 7,5-stündigem Sátántangó (Satanstango,1994) ist das Forum dafür bekannt, dass es keine Filmlänge scheut. In regenverhangenen Schwarz-Weiß-Bildern schrieb Tarr mit seinem Opus Magnum Filmgeschichte.
Neu- und Wiederentdeckungen
In De quelques événements sans signification (About Some Meaningless Events) von Mostafa Derkaoui (1974) befragt eine Gruppe Filmemacher die Bevölkerung nach ihren Erwartungen an das marokkanische Kino. 45 Jahre nach seiner Fertigstellung wurde der damals zensierte Film nun restauriert. Der 1983 entstandene und von Milestone restaurierte Dokumentarfilm Say Amen, Somebody von George T. Nierenberg porträtiert die Pioniere der US-amerikanischen Gospelszene Willie Mae Ford Smith und Thomas A. Dorsey. Ruchir Joshi dokumentiert in Egaro Mile (Eleven Miles, 1991) Tradition und Gegenwart einiger Baul-Sänger im bengalischsprachigen Indien und Bangladesch.
Forum Expanded
Der indische Schriftsteller Ruchir Joshi drehte 1993 Tales from Planet Kolkata, ein persönliches Porträt der Stadt Kalkutta aus der Sicht des Kinos. Zwei weitere Restaurierungen aus Indien stammen von Yugantar, Indiens erstem feministischen Filmkollektiv, das 1980 gegründet wurde. In einer Zeit radikaler politischer Umbrüche schuf Yugantar u.a. einen Film mit Fabrikarbeiterinnen, Tambaku Chaakila Oob Ali (Tobacco Ember, 1982) und einen zu häuslicher Gewalt, Idhi Katha Matramena (Is this just a story?, 1983).
Im April 1989 gründeten die Filmemacher Suliman Elnour, Eltayeb Mahdi und Ibrahim Shaddad die Sudanese Film Group (SFG). Bereits am 30. Juni 1989 beendete ein Putsch jegliche kulturellen Bestrebungen. Erst 2005 konnte sich die SFG erneut registrieren. Forum Expanded präsentiert sechs ihrer Kurzfilme, darunter Al Mahatta von Eltayeb Mahdi (1989), der auch im Programm der Berlinale Shorts zu sehen ist, und Jagdpartie (1964) von Ibrahim Shaddad, damals Student an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, der im Look eines Westerns von einer Jagd auf einen Schwarzen im Brandenburger Wald erzählt.
Harun Farockis grundlegende Videoinstallation Zur Bauweise des Films bei Griffith, in der er sich mit der Montagetechnik Schuss-Gegenschuss befasst, war 2006 beim ersten Forum Expanded zu sehen und wird nun zur Eröffnung der Betonhalle, einem neuen Ausstellungsort im silent green Kulturquartier, erneut gezeigt.
Think Film No. 7 - Archival Constellations
Auch in diesem Jahr findet wieder ein Symposium statt, das sich unerschlossenen, vergessenen oder prekären Filmarchiven sowie Archivprojekten widmet. Unsere Gäste sind SAVVY Contemporary, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, Film Feld Forschung, Harun Farocki Institut, Pong Film GmbH, Didi Cheeka, Maged Nader, Sonia Campanini, Edmund Peters, Natasha Ginwala, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Ritu Sarin, Tenzing Sonam, Abha Bhaiya, Deepa Dhanraj, Nicole Wolf, Deborah Stratman, Nanna Heidenreich, Talal Afifi, Eiman Hussein, Haytham El-Wardany, Tamer El Said, Ayreen Anastas, Rene Gabri.
Think Film No. 7 findet unter dem Dach des Arsenal-Projekts „Archive außer sich“ statt, das sich als kollaborative Serie von interdisziplinär angelegten Forschungs-, Veranstaltungs- und Ausstellungsprojekten mit dem filmkulturellen Erbe und seinen Archiven beschäftigt. „Archive außer sich“ ist ein Projekt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt im Rahmen von „Das Neue Alphabet“.
In diesem Zusammenhang entstand auch die Ausstellung „Shadow Circus“ bei SAVVY Contemporary: Ritu Sarin und Tenzing Sonam präsentieren eine neue Fassung ihres von der BBC in Auftrag gegebenen Dokumentarfilms The Shadow Circus: The CIA in Tibet (1998) zusammen mit einem Archiv audiovisueller Dokumente. Natasha Ginwala und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung haben die Ausstellung kuratiert.
Archival Constellations
Delphine et Carole, insoumuses (Delphine and Carole) von Callisto Mc Nulty, Frankreich / Schweiz – WP
Sois belle et tais-toi ! (Be Pretty and Shut Up!) von Delphine Seyrig, Frankreich
Maso et Miso vont en bateau (Maso and Miso Go Boating) von Carole Roussopoulos, Delphine Seyrig, Ioana Wieder, Nadja Ringart, Frankreich
S.C.U.M. Manifesto 1967 von Carole Roussopoulos, Delphine Seyrig, Frankreich
What We Left Unfinished von Mariam Ghani, USA / Afghanistan – WP
Hamas-e eshq (Epic of Love) von Latif Ahmadi, Afghanistan
Khan-e tarikh (The House of History) von Qader Tahiri, Afghanistan
Baba von Juwansher Haidary, Afghanistan
De quelques événements sans signification (About Some Meaningless Events) von Mostafa Derkaoui, Marokko
Egaro Mile (Eleven Miles) von Ruchir Joshi, Indien
The Garden von Derek Jarman, Großbritannien
Nuestra voz de tierra, memoria y futuro (Our Voice of Earth, Memory and Future) von Marta Rodríguez, Jorge Silva, Kolumbien
Sátántangó (Satanstango) von Béla Tarr, Ungarn / Schweiz / Deutschland
Say Amen, Somebody von George T. Nierenberg, USA
The Second Journey (To Uluru) von Arthur Cantrill, Corinne Cantrill, Australien
Variety von Bette Gordon, USA / Bundesrepublik Deutschland / Großbritannien
Al Dhareeh (The Tomb) von Eltayeb Mahdi, Ägypten
Al Habil (The Rope) von Ibrahim Shaddad, Sudan
Al Mahatta (The Station) von Eltayeb Mahdi, Sudan
Idhi Katha Matramena (Is This Just a Story?) von Yugantar, Indien
Jagdpartie (Hunting Party) von Ibrahim Shaddad, Deutsche Demokratische Republik
Jamal (A Camel) von Ibrahim Shaddad, Sudan
Tales from Planet Kolkata von Ruchir Joshi, Indien
Tambaku Chaakila Oob Ali (Tobacco Embers) von Yugantar, Indien
Wa lakin alardh tadur (It Still Rotates) von Suliman Elnour, UdSSR
Zur Bauweise des Films bei Griffith (On Construction of Griffith' Films) von Harun Farocki, Deutschland
Foto:
The Second Journey (To Uluru). Regie/directors: Arthur Cantrill, Corinne Cantrill. Foto/photo: © Corinne und/and Arthur Cantrill