BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 5
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Wenn die fast 30jährige Lola (Valerie Pachner) fitnessgestärkt in Wien-Schwechat den Flieger nach Rostock besteigen will, erhält sie die Nachricht vom Selbstmordversuch ihrer älteren Schwester Conny (Pia Hierzegger) , massiv mit paranoider Schizophrenie geschlagen. Sie kehrt um, fährt sofort in die Klinik, erledigt dort so schnell und produktiv wie in ihrer Arbeit als Unternehmensberaterin die Belange der Schwester, und ist flugs wieder im Flieger und kommt an ihr Ziel: Rostock.
Rostock? In der Pressekonferenz wird Marie Kreutzer, Buch und Regie, sagen, daß sie den dem glamourösen Wien entferntesten Ort wählen wollte, also ein echtes Pendant, wo Lola mit ihrem Team eine Firma gesundschrumpfen soll. Aber der Zuschauer bekommt von Rostock nichts mit, soll er auch nicht, denn die berufliche Welt der Lola besteht aus Hotellobbys, Hotelfluren, Hotelbetten, Geschäftsessen, Teambesprechungen, Telefongesprächen, Mitarbeiterschulung etc. Das Private daran ist dann die tägliche Fitnessübung. Ach so, dann hat sie noch ein heimliches Verhältnis mit ihrer Chefin Elise (Mavie Hörbiger), das einem aber eher als eine Mischung zwischen Fitness und Schulung vorkommt.
Bei Rostock merkten wir auf. Bei den Telefongesprächen von Conny, in denen sie der Schwester von den Foltermethoden der Klinik und anderen Ungeheuerlichkeiten berichtet, auch. Zunehmend beschleicht einen im Film das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmt. Auf der äußeren Ebene wird die taffe Lola von Konkurrenten und auch Elise zunehmend ausgebremst. Aber viel wichtiger ist die innere Ebene der Lola, die ins Wanken, ins Rutschen kommt, weil sie sich um Conny kümmern muß. Sie hat eine schöne, leere Wohnung. Sie ist eh nie zu Hause. Aber jetzt muß sie in Connys Wohnung, die nach Messie aussieht, extrem verwahrlost dazu. Aha, schon wieder ein Dualismus oder eher Antagonismus.
Während uns das Hin und Her der Protagonistin von Wien nach Rostock, zurück und wieder hin, und wieder zurück, fordert, weil einem nicht serviert wird, wo sie gerade ist, sondern man sich das selbst erschließen muß, wofür unsereiner dankbar ist, wird man doch von den großen Hollywoodschinken nur nach als Abnehmer einer perfekten und völlig auserzählten Geschichte benutzt, kommt einem noch im Film, aber verstärkt danach eine andere Vermutung. Das ist derart auffällig, daß immer Gegensätze auftreten, und jedes Hin ein Her und jedes Pro ein Contra hat, daß sich auf einmal die Vermutung einschleicht: stimmt das überhaupt, gibt es die beiden Schwestern, ist die eine in der Klinik, die andere in der Psychiatrie oder sind das zwei Seiten derselben Medaille? Eine klar strukturierte Frau, die beruflich sehr erfolgreich ist und eine völlig verwirrte, einsame Kranke mit Wahnvorstellungen.
Behaupten wir das doch einfach mal, daß wir es nur mit einer Person zu tun haben, denn die Bilder aus der Klinik können auch Halluzinationen sein. Vielleicht war Lola zwischendurch dort in Behandlung, vielleicht will sie ihrem beruflichen Streß entfliehen? Sie ist ja einsam, denn die Eltern sind verunglückt, haben aber immerhin ein Vermögen vererbt. Und was heißt überhaupt der Titel: DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN. Von diesem Boden spricht man eigentlich nur, wenn man ihn verliert. Und genau das passiert. Der Boden ist gar nicht mehr existent. Er ist perdu.
Warum wir uns in der Interpretation so weit vorwagen, hat schlicht damit zu tun, daß der Film eine Leerstelle läßt, die es zu füllen gilt. Immer wieder erhält nämlich Lola Anrufe ihrer Schwester aus der Klinik. Ruft Lola zurück, dann hört sie von der Stationsschwester, daß Conny tief schläft und keinesfalls angerufen haben kann, denn sie verfügt über kein Telefon. Hat sie eines, wäre es ihr abgenommen worden. Lola selbst geht aufgrund dieses Widerspruchs zu einer Ärztin, von der sie erfahren möchte, ob sie halluzinieren könnte. Aber bevor diese die Anamnese beendet hat, flieht Lola wieder einmal. Denn so zupackend sie einerseits beruflich ist, so nachlässig geht sie mit sich selbst um. Sie fängt an, macht nicht weiter. Was war jetzt also mit den Anrufen? Da sie im Film eine große Rolle spielen, schließlich beinhalten die Gespräche Handlungsaufträge, muß sich der Zuschauer dazu eine Meinung bilden. Und welche?
Ganz schön frech und mutig auch, daß sich Marie Kreutzer um diesen Widerspruch nicht schert und uns die Lösung überläßt.
Foto:
Lola und Conny
© berlinale.de
Info:
Darstellerin
Valerie Pachner – Lola
Pia Hierzegger – Conny
Mavie Hörbiger – Elise
Michelle Barthel – Birgit
Marc Benjamin – Sebastian
Axel Sichrovsky – Herr Bacher
Dominic Marcus Singer – Jürgen
Meo Wulf - Clemens