BERLINALE 2019: Der Wettbewerb, Teil 15
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Wenn der fünfzehnjährige Nicola (Francesco Di Napoli) aus Neapel am Schluß seinen kleinen Bruder, der erschossen wurde, beerdigt, wird er dennoch daraus nichts gelernt haben. Das zumindest muß der Zuschauer befürchten, so sehr haben sich die mafiösen Strukturen im Leben der neapolitanischen Vorstädte eingerichtet.
Und da sich Strukturen nicht einrichten, sondern Menschen Strukturen schaffen, geht es um menschengemachte Probleme des Zusammenlebens, das in Neapel wie jeder weißt, von der Camorra beherrscht wird. Wie diese allerdings schon das leben der Kinder und Jugendlichen bestimmen, das zeigt uns Claudio Giovannesi, dem der durch Gomorrha bekanntgewordene Roberto Saviano das Drehbuch nach seinem eigenen Roman schrieb. Das muß man alles nicht wissen, weil dies ein Film ist, der sich aus dem Zuschauen von alleine erschließt.
Kurzfassung: Nicola ist mit seinen Freunden gerne auf Mofas unterwegs. Er bekommt mit, wie an den Ständen des Marktes Schutzgeld eingezogen wird. Auch seine Mutter muß bezahlen. Die Jungengang möchte auch mal tolle Designerklamotten haben, vor allem diese tollen Schuhe, und naiv sie sie sind, machen sie einen Plan, einen Juwelier zu überfallen. Das klappt auch. Aber auch ein Schweinesystem handelt nach einem Schweineplan. In dem ist nicht vorgesehen, daß irgendwelche Jugendlichen die durch Schutzgeldzahlungen ja gegen zusätzliche Unbill „Versicherten“ ausrauben.
Also wird die Jugendbande blitzschnell von der örtlichen Camorra identifiziert und festgesetzt. Natürlich muß das Diebesgut wieder zurückgebracht werden. Aber der junge Nicola lernt daraus. Der Weg war falsch, aber nicht das Ziel. Also geht er strategisch vor, überlegt wie er die Bestimmer in seinem Viertel mit Hilfe eines ausgebotenen Clans zu Verlierern machen kann und selbst die Macht, das heißt die Schutzgeldzahlungen eintreiben kann. Mit seiner Jugendgang selbstverständlich.
Wie dies nun geschieht, da halten wir beim Zuschauen den Atem an. Als erstes werden Waffen rekrutiert und dann schießen sich die Jugendlichen auch noch hoch oben auf den Dächern ein, selbst Sturmgewehre und Maschinenpistolen werden von ihnen wie Steinschleudern als Spielzeug betrachtet und einfach abgeschossen. Ach ja, als Dealer haben sich die Jungs erst schon einmal versucht und vom schnell verdienten Geld sich chic gemacht und die Roller besorgt. Jetzt aber sind höhere Ziele dran. Und sie kommen mit ihrer Strategie erst einmal durch. Höhepunkt ist für Nicola, daß in einem ersten Schritt seine Mutter als einzige keinen Schutzzoll mehr zahlen muß. Aber dann erreicht er durch Waffengewalt sein eigentliches Ziel, Herr über sein eigenes Viertel zu werden.
Abenteuerlich, wenn er der Mutter für Tausende eine neue, potthäßliche, weil kitschige Wohnungseinrichtung kauft. Denn er ist ja ein guter Junge, liebt seine Mutter und seinen kleinen Bruder, den er beschützt. Den Wahnsinn, der Methode hat, arbeiten Drehbuch und Film exakt heraus. Mit den Waffen, die eben echt sind und kein Spielzeug, gehen die Jungens aber wie Spielzeug um und erschießen so mir nichts, Dir nichts diejenigen, die sie für ihre Feinde halten, also die, die ihnen zum Abschöpfen der Pfründe im Wege sind. Da ist keine Hemmung, es ist eher wie bei Computerspielen, die Waffen sind die Verlängerungen der Gedanken, daß sie diejenigen sind, die das Sagen haben wollen und andere deshalb töten. Ist doch legetim. Kinder sind sie, weil sie von den Folgen ihrer Taten keine Ahnung haben. Die treten jedoch ein.
Denn längst haben die jüngeren Geschwister mitbekommen, was die Großen treiben und was die können, können sie erst recht. Und jetzt ziehen diese Kinder mit diesen Waffen los. In diesen Momenten wird aus dem spannenden, aufklärerischen und erschütternden Film eine Tragödie im antiken Stil. Denn der kleine Bruder von Nicola wird bei dem Streifzug der Kinder erschossen. Das hat er nun davon. Und seine Mutter auch. Die hatte ihren Sohn zwar nicht zu seinen Taten motiviert, aber so richtig entschieden ist sie ihm auch nicht in die Parade gefahren.
Doch, wir ahnten es schon am Anfang. Zwar ist Nicola erschüttert, aber er wird die Mordzüge nicht einstellen, sondern eher die Verantwortlichen am Tode seines Bruders ausfindig machen, verfolgen und töten. Das ist das Gesetz der Straßengangs, das Gesetz der Camorra. Wie das Programmheft sagt: „Es ist die erscühtternde Bestandsaufnahme einer Jugend im Dauerkriegszustand, gespielt von Laiendarstellern aus dem Viertel. Kinder, die dealen, rauben und töten, in einer Welt ohne Zukunft, in der es allein um Geld, macht und ums Überleben geht.“
Weshalb hier über die filmischen Mittel gar nichts weiter gesagt wird, hat damit zu tun, daß der Film seinem Inhalt in jeder Szene gerecht wird. Die dröhnenden Roller, das durch enge Straßen Flitzen, die Geschwindigkeit, wird von der Kamera adäquat eingefangen, die immer Transporteur des Geschehens ist, sich nicht vordrängt, sondern visuell die Zwanghaftigkeit des Geschehens wiedergibt.
Foto:
© Palomar 2018
Info:
Darsteller