f blutenSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 7. März 2019, Teil 6: EIN ESSAY VON DORIS DÖRRIES ZU „KIRSCHBLÜTEN – HANAMI“

Doris Dorrie

München (Weltexpresso) – Warum zieht es mich immer wieder nach Japan? Das ist jetzt nach „Erleuchtung garantiert“ und „Der Fischer und seine Frau“ schon der dritte Film, den ich,– zumindest teilweise –, in Japan gedreht habe. Vor mehr als zwanzig Jahren war ich zum ersten Mal dort. Mein erster Spielfilm „Mitten ins Herz“ war zum Filmfestival nach Tokio eingeladen worden und mit ihm stolperte ich in dieses Land wie in einen Traum.

An meinem ersten Abend in Tokio taumelte ich nach fast vierundzwanzig Stunden Reisezeit wie betäubt in der tropisch-feuchtheißen Luft durch die Straßen, auf den Taxis leuchteten bunte Lampions und ein Strom von dunkel gekleideten Menschen zog wie ein riesiger Fischschwarm an mir vorbei. Ich traute mich nicht, in ihn einzutauchen und gleichzeitig sehnte ich mich danach einfach mitzuschwimmen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen sollte. Voller Angst mich zu verirren und mein Hotel nie mehr wieder zu finden, hangelte ich mich von einem Gebäude zum anderen und begegnete dabei dem Regisseur István Szabó, der mich freundlich begrüßte, als seien wir alte Bekannte – dabei waren wir nur die einzigen Westler weit und breit.

Begeistert aß ich den nächsten Tagen japanisches Frühstück mit Fisch und Reis, entdeckte einen kleinen Tempel direkt hinter dem Hotel, ansonsten kutschierte mich das Festivalkomitee mit einem Fahrer mit weißen Handschuhen ins Kino und auf luxuriösen Parties, wo kunstvolle Eisskulpturen vor sich hinschmolzen und Frauen im Kimono auf traditionellen Instrumenten Beatle-Songs spielten. Ich küsste japanische Filmfunktionäre auf die Wangen, weil es sie in hysterisches Kichern ausbrechen ließ, und im Gegenzug luden sie mich in den Playboy-Club von Tokio ein. Hoch über Shibuya bedienten mich japanische Frauen in Häschenkostümen und ich hatte immer mehr das irritierende Gefühl, nicht wirklich in Japan zu sein, sondern nur in einer Version von diesem Land für westliche Langnasen.

In einer Anwandlung bat ich einen der Filmfunktionäre mir auf ein Schild die japanischen Zeichen für Tokio zu schreiben, und mit diesem Schild unter dem Arm marschierte ich aus dem Kino zum Bahnhof Shibuya und nahm den nächsten Zug nach Kamakura. Überwältigt wanderte ich kurze Zeit später durch Tempel und Bambuswälder und glaubte, im Paradies gelandet zu sein.

Von da aus lief ich einfach weiter, immer weiter, konnte kein Wort mehr lesen, keins mehr sprechen, keins verstehen. Das machte mich seltsam heiter, als trüge ich eine Tarnkappe, obwohl ich – blond und groß und zu allem Überfluß noch in einen leuchtend gelben Regenmantel gekleidet – über alle Maßen sichtbar war. Vielleicht war es weniger eine Tarn-, als eine Narrenkappe, denn ich schien auch meine Umgebung in meiner typisch westlichen, tollpatschigen Art über die Maßen zu erheitern und hatte so viel Spaß wie schon lang nicht mehr.

Vorsätzlich verirrte ich mich immer weiter, nur das Schild mit den Zeichen für Tokio als Sicherheit, jemals wieder zurückzufinden, im Rucksack. Ich ließ alles zurück, was ich selbst über mich dachte, und was die Japaner über mich dachten, erfuhr ich aus purer Höflichkeit und mangelnden Sprachkenntnissen nicht. Sie nahmen mich an der Hand und zeigten mir Hotels, Restaurants, den Weg, oder sie hielten in ihren Autos an, – meist nicht, um mich mitzunehmen, sondern, um ein Foto von mir zu machen.

Ich fuhr weiter und weiter, oder im Kreis – bis heute weiß ich nicht so recht, wo ich wirklich gewesen bin. Ich entdeckte immer neue, romantisch gelegene Tempel und Shintoschreine und dann wieder riesige, amerikanische Shopping Malls und Bingohallen, kleine Kopfsteinwege durch die Dörfer neben gigantischen Autobahnüberführungen, allerliebst in Tellern angelegte Minigärten und durch Industrieanlagen verwüstete Landstriche. Das Nebeneinander von alt und neu, dem traditionellen und amerikanischen Einfluß, erinnerte mich oft an zuhause. Deutschland und Japan: Kriegsverlierer und Wirtschaftswunderländer. Amerika als Land der Sehnsucht.

Ich führte gesungene Unterhaltungen mit wildfremden Menschen, mit denen ich zwar keinen Satz wechseln konnte, aber amerikanische Popsongs austauschen konnte, deren Texte wir sowieso nie ganz verstanden hatten, und so sang ich mit einem jungen japanischen Geschäftsmann in seinem Porsche „De taims dei a ei shein shin“ (The times they are a changing – Bob Dylan) und mit einer Mutter mit winzigem Kind in einem winzigen Toyota „wi no ni a na ta hi ho“ ( We don ́t need another hero – Tina Turner).

Immer mehr verlor ich mich in einem Gefühl des „verirrten Aufgehobenseins“. Eine verblüffende, fast zärtliche Direktheit legten die Leute im Umgang mit mir an den Tag, die in der allgemeinen Vorstellung von den zurückhaltenden Japanern nicht vorkommt. Ich wollte nie wieder zurück, nie wieder nach Hause, wo ich in wenigen Wochen einen Film mit dem Titel „Männer“ drehen sollte. Natürlich fuhr ich doch und ging zuhause allen auf die Nerven mit meiner Japanophilie. Ich lernte japanisch kochen, versuchte, japanische Schriftzeichen zu schreiben, trank grünen Tee und schlief auf harten Futons. Ich schrieb die Kurzgeschichte „Samsara“ über die erste Reise und sehnte mich lange vergeblich danach, zurückzukehren.

Erst 1994, also fast zehn Jahre später, kam ich wieder nach Japan. Dieses Mal jedoch mit meiner fünfjährigen Tochter, und das wurde eine ganz andere Reise als die erste. Nicht mir galt jetzt das Interesse, sondern meinem blondgelockten Kind, das behandelt wurde wie ein nahezu göttliches Wesen. Das ganze Land passte auf es auf. An einem Bahnhof wie Shinjuku, durch den an einem einzigen Tag mehr als zwei Millionen Fahrgäste strömen, nahmen immer wieder wildfremde Menschen mein Kind an die Hand, um es der einzigen blonden Frau weit und breit sicher zuzuführen. An jeder Straßenkreuzung passten Leute auf, dass mein Kind nicht bei Rot über die Straße lief. Wenn meine Tochter etwas fallen ließ, eilten sofort mehrere Menschen herbei, um es ihr wieder aufzuheben. Jeder Wutanfall, jedes Rabaukentum wurde ihr verziehen. Später fand ich heraus, dass alle kleinen Kinder in Japan komplette Narrenfreiheit genießen. Wir waren jetzt also als zwei Narren unterwegs, der große und der kleine.

Zwei Monate lang sollte ich Vorlesungen an verschiedenen Universitäten halten. Meine Tochter und ich hatten zuvor ein wenig Origami gelernt, was sich als der schamloseste Trick überhaupt entpuppte, denn kaum ein Japaner kann sich Tränen der Rührung erwehren, wenn er von einem deutschen Kind einen gefalteten Kranich überreicht bekommt. Wenn ich meine Vorlesungen hielt, verteilte meine Tochter Origami-Papier an die Studenten, die automatisch vor sich hinfalteten, weil jeder Japaner Origami im Kindergarten lernt, und am Ende sammelte sie alles wieder ein. Abends sortierten wir unsere Origami-Beute und gaben den Studenten Noten für ihre Schöpfungen. Der Gewinner hatte eine Armada von kleinen Nonnen gefaltet. Obwohl mir das Universitätsleben altmodisch und vollkommen erstarrt erschien wie vieles im öffentlichen Raum, erlebte ich im Alltag eine noch größere Vertrautheit und Direktheit als bei der ersten Reise.

Mit meiner Tochter entdeckte ich die japanische Badekultur, da ich zum Entsetzen der Veranstalter darauf bestanden hatte, in Minshukus – kleinen, traditionellen Pensionen, die oft nur ein Gemeinschaftsbad haben – zu übernachten. Die Minshuku-Besitzer haben oft Angst vor westlichen Besuchern, denen sie die Regeln ihrer Pension nicht erklären können, und die alles falsch machen. Z.B. mit den Toilettenpuschen Räume betreten, nicht auf die Sekunde pünktlich im korrekt gebundenen Kimono zum Essen erscheinen und größter Graus: sich im Badewasser einseifen! Beeindruckend fand ich beim Gemeinschaftsbad mit den Frauen die große Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Körper, auch wenn er bereits alt und gebrechlich ist. Es ist eine schwer zu beschreibende Härte im Umgang mit dem Unvermeidlichen, die eine große Freiheit beinhaltet. Es ist so wie es ist. Was Macken und Fehler hat, gewinnt dadurch erst Schönheit. Alte Frauen und junge, bildhübsche Mädchen saßen vollkommen entspannt zusammen im heißen Wasser und schienen sich weder zu beneiden noch zu fürchten.

Ich verstand das japanische Alltagsleben im familiären Umfeld der Minshukus sehr viel besser über die Perspektive meiner Tochter als zuvor auf meinem verrückten Tramptrip allein. Die meist traditionelle Architektur der Minshukus mit ihren Reisstrohmatten und Schiebewänden wirkte wundersam beruhigend. Wahrscheinlich, weil die Räume leer sind und die Erwachsenen mit den Kindern am Boden sitzen.

Immer wieder beobachtete ich fasziniert eine große Sorgfalt: Ob es das Bettenmachen im Minshuku war, das Baden, das Essen, das Verhalten, die Art, wie man etwas einwickelt, oder wie man jemandem eine Visitenkarte überreicht, immer gab es eine besondere Achtsamkeit und Liebe zu den Dingen und zum Detail, die auch einen Namen hat: Mono no aware. Darüber ist viel Unsinn geschrieben worden, und wie vieles Japanische im Westen ins Mythische überhöht worden. Es gibt unzählige Übersetzungen dafür, die drei, die mir am besten gefallen, sind: Entzückt und wehmütig berührt sein. Angerührtsein von den Dingen. Das Aufgehen des Ichs in den Dingen der Welt. Vielleicht ist es einfach ein ausgeprägteres Bewusstsein für die Vergänglichkeit und deshalb ein konzentriertes Vergnügen an den einfachen Dingen des Lebens. Essen und Baden. Wer einmal erlebt hat, wie nach dem Bad im Speisesaal zusammen gegessen wird und alle dabei ihre Kimonos tragen und keiner etwas dabei findet, wenn man sich zwischendurch hinlegt und ein Nickerchen hält, die Kinder herumtollen und die Mütter ein bisschen angeschickert mit ihren Männern flirten, glaubt, im Familien-Paradies zu sein.

Von einem rosa Telefon aus, das aussah wie ein kleiner rosa Elefant, telefonierte ich mit meinem Mann in Deutschland und bedauerte zutiefst, dass wir nicht zusammen in Japan waren. Die ganze Familie ...

Zurück in Deutschland sah ich die Filme von Yasujiro Ozu im Fernsehen. In der Filmhochschule hatten sie mich eher gelangweilt, da war ich zu jung und ungeduldig für ihren Rhythmus und ihr Thema gewesen, aber dieses Mal trafen sie mich mitten ins Herz. Ich erkannte die besondere, japanische Liebe zu allen Dingen und ihrer verflixten Vergänglichkeit wieder, eben dieses „mono no aware“, und gleichzeitig war Ozus immer gleichbleibendes Thema jetzt auch mein Lebensthema geworden: die Familie. Wieder und wieder erzählt Ozu Familiengeschichten, so wie Hokusai immer wieder Mount Fuji gemalt hat. Immer wieder die Annäherung an ein und dasselbe Thema.

100 Ansichten von Mount Fuji. 100 Mal Abschied. Ich habe Geschichten über Abschied geschrieben und Filme darüber gedreht, als ich noch gar keine größeren Abschiede in meinem Leben erlebt hatte. Wie einen Vodoo-Zauber, um mich zu schützen.
Half alles nicht. Als mein Mann lebensgefährlich erkrankte, begann ich zu meditieren, was anfangs nichts mit Zen oder Japan zu tun hatte, sondern einfach damit, dass sonst nichts mehr half, als einfach nur still zu sitzen. Alle Konzepte und Vorstellungen, die ich von meinem Leben gehabt hatte, lagen in Trümmern. Nichts war mehr so wie zuvor. Mir war der Teppich unter den Füßen weggezogen worden, was nach der buddhistischen Lehre ein sehr günstiger Moment ist, um aufzuwachen.

Nach dem Tod meines Mannes 1996 war ich überzeugt davon, dass ich ohne ihn, der Kameramann gewesen war, keine Filme mehr machen könne. Ein Freund meines Mannes, Werner Penzel, überredete mich, es dennoch zu versuchen, und ganz ohne Plan den Dokumentarfilm „Augenblick“ zu drehen, jeden Tag mit einer kleinen Videokamera loszuziehen und einfach nur zu schauen.

Die Struktur fand sich durch die Nähe zu dem Betrachteten. Es begann, zu sprechen und mich zu führen. Das war etwas ganz Anderes, als ich gewohnt war: mit einem großen Team, einem festgelegten Drehbuch und einer exakt geplanten Shotlist an einen Drehort zu gehen und dort zu versuchen, in der Fiktion eine Wirklichkeit herzustellen, sie zu reinszenieren.

Durch die Amateurvideokamera bekam ich eine Tarnkappe: Ich wurde zum Touristen und musste nur stillhalten und schauen, anstatt den Bildern hinterherzulaufen und in sie in meine Vorstellung von ihnen zu pressen.

Die Kontrolle aufzugeben stellte sich für mich als aufregender und auch vielleicht „liebevoller“ heraus, als sie auszuüben. Diese Art zu drehen, schien mir jetzt besser geeignet, den Dingen auf den Grund zu gehen und herauszufinden, wie Leben funktioniert.

Ich versuchte, sie auf einen Spielfilm zu übertragen und erfand eine Geschichte von zwei Brüdern, die in ein Zenkloster nach Japan fahren und alles verlieren, was ihre Identität zuvor ausgemacht hatte: Familie, Geld, Paß. Mein neues Vorbild war Bassho, der wandernde Dichter, der im 17. Jahrhundert durch Japan zog und inspiriert von seiner Umgebung jeden Tag einen Haiku schrieb. Z.B.:

Der Frühling scheidet:
Die Vögel weinen – selbst den Fischen Kommen die Tränen.

Aber auch:
Nichts als Flöhe
Und nah an meinem Kopfkissen
Pißt auch noch ein Pferd.


FORTSETZUNG FOLGT

Foto:
© Verleih

Info:
BESETZUNG
Golo Euler......................Karl
Aya Irizuki.......................Yu
Felix Eitner......................Klaus
Floriane Daniel...............Emma
Birgit Minichmayr...........Karolin
Sophie Rogall................Anita
Elmar Wepper.................Rudi
Hannelore Elsner............Trudi
Kiki Kirin.........................Yus Großmutter u.v.m.

Abdruck aus dem Presseheft