Bildschirmfoto 2019 07 10 um 01.12.59Nachtrag:  Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 27. Juni 2019,   Teil 14

Philippe Bober im Gespräch mit Susanne Heinrich 

Berlin (Weltexpresso) - Bober: Du hast einmal gesagt, wir sollten über Feminismus sprechen. Und du hast gesagt, dass DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN Stereotypen umdreht. Hab ich das richtig verstanden?

Heinrich: Fast. Wir haben uns erlaubt, mit dem Konzept des »male gaze« von Laura Mulvey herumzuspielen. Das ist eine Schlüsselidee der feministischen Filmtheorie, und sie besagt, dass traditionelle (Hollywood-)Filme so gemacht sind, dass sie eine männliche Schaulust befriedigen. Die Frauen sind das »Spektakel«, das angeschaut wird, die Männer sind die »Träger des Blicks«. Ich dachte also, wir drehen es einfach mal herum, filmen Männerkörper wie Frauenkörper und schauen, was passiert. Zum Beispiel im Monolog, da gibt es diesen Blick von oben auf einen weichen, rundlichen, Männerkörper, der so lasziv vor uns ausgebreitet ist. Oder eine andere Szene, wo ein Mann auf dem Bett Pin-up-Posen performt, während das melancholische Mädchen aus dem Tiqqun-Buch zitiert. Da geht es darum, durch einen simplen Tausch, ein kleines Spiel, Sehgewohnheiten zu dekonstruieren. Es ist ein kleiner Beitrag, der natürlich auch die Unmöglichkeit eines weiblichen Blicks thematisiert. Also ich meine, es gibt den spezifisch weiblichen Blick nicht oder noch nicht. Ich kann nur versuchen, das Fetischisierende, Kontrollierende des männlichen Blicks zu vermeiden oder eben damit zu spielen.


Möchtest du über die anderen Ebenen des Feminismus im Film sprechen?

Bleiben wir bei den Späßen. Die meisten Frisuren, die das melancholische Mädchen trägt, sind Signature-Frisuren von Hollywood-Diven. Es fängt zum Beispiel mit der Frisur von Audrey Hepburn in »Breakfast at Tiffany´s« (1961) an. Dann gibt es die Locken von »Pretty Woman« (1990), die berühmte Seitenscheitel-Frisur von Bette Davis oder die toupierte Tolle von Brigitte Bardot. Indem wir damit spielen, markieren wir das melancholische Mädchen – mehr als Frau aus Fleisch und Blut – auch als eine Männerphantasie. Der »Mythos Frau«, der für alle Frauen steht. Dieses »I´m every woman« aus dem Casting-Monolog war so eine Art Motto für unser Maskenkonzept.


Ein anderer Spaß ist, dass wir am Ende des Films 4 ½ Minuten lang dem melancholischen Mädchen dabei zuschauen, wie es Eis isst, weil es zu wenig essende Frauen in Filmen gibt.

Genau. Das tut so gut, oder? Das sind jetzt alles ganz konkrete Beispiele.


Und abgesehen von den Späßen?

Man kann den Film insgesamt als feministische Kapitalismuskritik lesen. Die Behauptung ist, dass wir uns in unserer post-modernen Gesellschaft durch lauter Nicht-Orte bewegen und im Modus der Werbung aufeinander einreden statt uns wirklich zu begegnen. Wir suchen nach Ersatz für die verlorene Religion. Wir leben in einer hypersexualisierten, aber total unerotischen Welt. Die serielle Monogamie ist eine Einbahnstraße. Es gibt im Grunde keine Ereignisse mehr, nur noch Turnübungen, die immer wiederholt werden müssen, um zu bezeugen, dass wir ja so fürchterlich frei sind. Statt zu erkennen, dass die Strukturen pathologisch sind, werden einzelne Individuen – meistens Frauen – pathologisiert und therapiert. Die Rollenangebote für Frauen in unserer Gesellschaft sind immer noch lächerlich. Es gibt einfach keinen Platz für sie. Und der Ort der Auseinandersetzungen, der Kämpfe, der Erschütterungen, ist immer noch der weibliche Körper. Genau da entsteht der Archetyp des »melancholischen Mädchens«.


                                                                                                    Es geht um Psychologie

Ich habe DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN nicht als Archetyp gesehen. Schon als den Träger einer modernen Geschichte. Aber als Mensch, nicht als Archetyp.

Ich stelle mir keinen der Charaktere als Mensch aus Fleisch und Blut vor. Es ist eher wie im Brechtschen Theater, wo eine Mutter auftritt, die für alle Mütter steht, oder eine Arbeiterin, die für alle Arbeiterinnen steht. Zum Beispiel haben wir die Zimmer der Männer ja auch wie Motto-Räume eingerichtet, nicht wie reale bewohnte Räume. Und genauso sind die Figuren alle Stellvertreter*innen.


Und dass die Hauptfigur eine Männerphantasie ist? Das überrascht mich.

Dazu ist vielleicht noch wichtig, dass das melancholische Mädchen ja vor allem dieses Gesicht ist, dieses opake, zeitlose Gesicht, in dem man so gar keine Emotion lesen kann. Diese schöne Oberfläche lädt natürlich dazu ein zu projizieren, irgendetwas in ihr zu sehen, irgendetwas in sie hineintun oder aus ihr herausholen zu wollen, und da passiert schon der Übergriff. Deshalb gibt es zum Beispiel diese hypnotischen Close-ups, wo die Charaktere direkt in die Kamera schauen.


Kannst du mehr darüber sagen, über die Verbindung zwischen der Tatsache, dass es um Strukturen geht, was ich verstehe, und der Art des Schauspiels, der Diktion, des Dekors?

Ja. Also, wenn man es anders erzählt hätte, wenn man sowohl auf der Ebene der Dramaturgie als auch auf der Ebene des Schauspiels, der Szenografie, des Kostüms und so weiter naturalistisch erzählt hätte, dann hätte man bestenfalls Mitleid mit einer jungen Frau entwickelt, die sich gerade selber findet. Aber das ist kein Coming-of-Age-Film, ich will das nicht als persönliche Betroffenheitsgeschichte erzählen. Es geht hier nicht um Psychologie, sondern um gesellschaftliche Strukturen. Das habe ich verstanden, als ich das Drehbuch gelesen habe. Es kam alles aus dem Drehbuch, also alle formalen Entscheidungen sind aus der Befragung des Textes heraus entstanden. Bei Brecht bin ich auf den Verfremdungseffekt gestoßen und auf Brechts Konzept von Theater als Gesamtkunstwerk, das ich gut verwenden konnte für den Film. Zum Beispiel hat die Musik in DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN eine besondere Rolle und tut sehr viel mehr als nur auf Handlung zu reagieren oder Atmosphären zu schaffen oder Gefühle zu evozieren.


Es geht dir also um eine andere Wirkung?

Ja! Für mich hat das viel damit zu tun, wie Godard zwischen politische Filme machen und politisch Filme machen unterschieden hat. Ich glaube, wenn man wirklich etwas erzählen will, das vorher noch nicht erzählt wurde, muss man auch eine neue Form finden. Sonst reproduziert man einfach Bilder. Und ich war eben auf der Suche nach dem präzisen Ausdruck für das, was der Text sagt, und bin am Ende bei diesem Bild gelandet. Das waren ganz viele kleine Einzelentscheidungen, für die ich mir extrem lange Zeit gelassen habe. So lange, bis ich mir wirklich sicher war. Wir haben zum Beispiel drei Monate Schauspieltraining gemacht. Das war sehr spannend, weil die Schauspieler*innen alle an Fernsehschauspiel gewöhnt waren und es lange gedauert hat, bis sie mir keine Gefühle mehr angeboten haben, sondern eine Choreografie.

Das alles läuft darauf hinaus, dass ich glaube, dass wir heute eine sehr seltsame Vorstellung von Identifikation haben. Dass das ganz oft nur eine einfache emotionale Übertragung ist. Es steht jemand am Fenster und weint und es regnet draußen, und wir weinen mit. Aber Identifikation, so wie Brecht sie verstanden hat, ist ein lustvolles und spielerisches sichWiederfinden in Strukturen, die mir vorgeführt werden. Da geht es darum, eine Distanz dazu zu behalten, um sein kritisches Bewusstsein nicht zu verlieren. Also es geht mir eigentlich um einen bestimmten Wirkmechanismus, der anders funktioniert als im Emotionskino. Was nicht heißt, dass die Zuschauer*innen keine Gefühle haben dürfen, im Gegenteil. Ich glaube, wenn nicht nur eine einfache Übertragung passiert, wenn wir nicht bloß mitfühlen mit den Figuren, kann sich unsere Traurigkeit auf die Inhalte und die beschriebenen Zustände beziehen. Die überzeichnete Darstellung dieser Zustände denaturalisiert sie außerdem, das heißt, sie kommen uns unnatürlich, künstlich, absurd vor – und damit veränderbar. Dann wird der Gedanke möglich: Es könnte alles anders sein. Diesen Effekt nenne ich »das Unbehagen produktiv machen«.


Du hast vorhin kurz über die besondere Rolle der Musik gesprochen. Kannst du mehr dazu sagen? Wie bist du darauf gekommen, den Film mit einer Big Band zu vertonen?

Das war ein langer Prozess. Am Anfang hatten wir den Plan, die verschiedenen Episoden an verschiedene befreundete Bands und Musiker zu schicken und einzeln vertonen zu lassen. Nach den ersten Entwürfen war klar, dass das den Film in Kurzfilme zerfallen lässt. Ich wollte etwas, das den Film zusammenhält, aber nicht auf eine narrative Art, sondern eher wie verschiedene Teile einer Show. Eines Morgens sprang Mathias (Bloech, Regieassistent) vom Frühstückstisch auf und rief: »Ich weiß jetzt, was du brauchst. Du brauchst eine Big Band!« Ich dachte sofort: Das ist es! Die Ironie und die Leichtigkeit und die Nostalgie, die eine Big Band mitbringt, allein weil sie eine historische Formation ist! Das könnte die erzählte Welt, die ja aktuell ist, gleichzeitig historisieren. Wie eine vergangene Erzählung. Und dann der Schmutz der analogen Instrumente! Das würde den glatten Bildern ein wunderbar tiefes Hinterland geben, in dem man Raum hätte, Gefühle für den Film zu entwickeln. Es war eine geniale Idee

Moritz (Sembritzki, Komponist) war genau der richtige für die Komposition. Er versteht Pop als Modus der Ansprache, nicht als bestimmten Stil. Und er ist kein Filmmusiker. Ich glaube, das war gut, denn die meisten Filmmusiker, die ich getroffen habe, hatten gelernt Musik zu machen, die nicht auffällt. Das schwierigste an der Zusammenarbeit war, eine gemeinsame Sprache zu finden. Ich wusste, wie die Musik sich anfühlen sollte, aber ich hatte wieder einmal keine Vorbilder, über die wir sprechen konnten. Als Beispielmusik lag Schostakowitsch neben Michael Nyman, Zirkusmusik und Techno unter dem Rohschnitt. Aber hätte man diesen Film zum Beispiel wirklich mit zeitgenössischer elektronischer Musik unterlegt, wäre er viel kleiner geworden als er ist, und er hätte ein Haltbarkeitsdatum bekomme

Wir hatten die Idee, dass man die Anwesenheit der Big Band den ganzen Film über spürt – auch wenn nicht immer alle spielen. Aber dass man dieses Potenzial, diese Kraft die ganze Zeit spürt. Deshalb haben wir auch Improvisationen davon aufgenommen, wie die Musiker ein- und auspacken, ihr Atmen, ihre Anwesenheit. In einigen Szenen sind sie ganz nah vor uns, wie eine Stummfilmband, die live zum Film spielt.



                                                                        Ein Roadmovie in der jetzigen Welt

Ich habe noch ein anderes Thema. Mir ist der Gedanke gekommen, dass sich der Film im Grunde wie eine Art Roadmovie in der jetzigen Welt anfühlt.

Ich mag den Begriff »Roadmovie« ganz gern, obwohl der Film streng genommen ein Episodenfilm ist, ohne Chronologie, ohne zusammenhängende Narration. Aber Roadmovie stimmt in dem Sinne, dass das Mädchen selbst eine Sträunerin ist, eine Wandererin. Sie trägt ja auch nicht ohne Grund diese Boots, diese Wanderschuhe, und ist erst ab dem Pelz aufwärts eine Dame, was eine Referenz auf Jacques Demy´s Film »Ein Zimmer in der Stadt« (1982) ist ... Jedenfalls ist sie eine Sträunerin, und es ist vielleicht in dem Sinne ein Roadmovie wie »Falling down« von Schumacher ein Roadmovie ist, der ja auch sehr symptomatisch ist für seine Zeit, oder auch die Filme von Altman, oder »Wanda« (1970) von Barbara Loden, oder »Sue« (1997) von Amos Kollek.

Ich glaube, das melancholische Mädchen ist die typischste und logischste Figur, auf die man kommt, wenn man etwas über unsere Zeit und unsere westliche Blase erzählen will. Und es gibt einen interessanten Essay von Beatriz Colomina darüber, dass das Bett der paradigmatische Ort des 21. Jahrhunderts ist. Insofern muss das Roadmovie unserer Zeit vielleicht ein Bed Movie sein. Also ja, ich glaube auch, dass DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN der Roadmovie oder vielleicht der Bedmovie unserer Zeit ist. Humor hat etwas mit Befreiung zu tun.


Vielleicht möchtest du auch noch etwas zu der Ironie des Films sagen, oder zu seinem Humor. Ich habe beobachtet, dass es Momente gibt, in denen nur Frauen lachen.

Ja, das stimmt. Ich habe mich auch gefragt, was für eine Art von Humor das ist, den ich da gefunden habe. Ich war nie besonders humorvoll, zumindest nicht in meinen Texten (lacht). Ich glaube nicht, dass es Ironie ist. Ich glaube, es hat mit Befreiung zu tun, auf verschiedenen Ebenen. Wenn der Normalo in der letzten Szene auf dem Bett diese Pinup-Posen macht, in die normalerweise nur Frauen gezwungen werden, geht es nicht nur darum, die Konstruktion von Gender zu erzählen als eine absurde Performance, die man ständig erfüllen muss, sondern es geht auch ganz einfach darum, einen Mann in dieser Position zu sehen. Ich fühle mich dann einfach befreit und erleichtert, irgendwie entschädigt, und das ist der Grund, warum ich lache. Ich glaube, das Wissen um die Zustände in diesem Film hat mich lange Zeit einfach nur gelähmt oder wütend gemacht. Es war schwer, dazu irgendwie eine lebbare Haltung zu finden, wenn du verstehst, was ich meine. Der Humor war vielleicht die einzige Möglichkeit, mit dem Wissen umzugehen. Es ist ein produktives Lachen, das ein eigentlich schmerzvolles Wissen in etwas anderes verwandelt.

FORTSETZUNG FOLGT



Foto:
© Verleih

Info:
DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN
ein Film von Susanne Heinrich
DE/FR/DK 2019, 80 Minuten, deutsche OF mit englischen UT
mit Marie Rathscheck

Philippe Bober ist einer der Producer von DAS MELANCHOLISCHE MÄDCHEN und Gründer der internationalen Produktions- und Weltvertriebsfirma Coproduction Office.