Kirsten Liese
Locarno (Weltexpresso) - Es mag übertrieben erscheinen, wenn sich ein Mann Mitte 40 ohne Anzeichen eines Notfalls mit der Bohrmaschine gewaltsam Zutritt zu der Wohnung seines Bruders verschaffen will. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo Jette, seine 18-jährige Tochter, die kurz vor ihrem bevorstehenden sozialen Jahr in Costa Rica einen unentschlossenen Eindruck macht, eiligst zum Flughafen muss.
Obgleich dieser alleinerziehende Urs mit seinem eigenwilligen Verhalten eine Kette von misslichen Ereignissen in Gang setzt, mag man in ihm doch einen Vater erkennen, dem es nicht gleichgültig ist, was aus seiner Tochter wird. – Auch, wenn ihm hier und da Übergriffe unterkommen und er zunehmend in Stress gerät, als Jette in letzter Minute ihren Flug sausen lässt und mit ihrem verdutzten, unwesentlich bodenständigeren Freund abhaut.
Mit dem Familiendrama „Das freiwillige Jahr“ von Ulrich Koehler und Henner Winckler präsentierte das Filmfestival in Locarno in seiner 72.Ausgabe seit längerer Zeit endlich wieder einen starken, von der Jury leider unbeachteten, deutschen Beitrag im internationalen Wettbewerb. Spannende Fragen zu Erziehung und Adoleszenz, ambivalente, komplexe Charaktere, eine bemerkenswerte, von Lichtstimmungen bestimmte Bildsprache sowie eine der Erzählung angemessene poetische Kargheit zeichnen das virtuos zwischen tragischen Momenten und Situationskomik oszillierende Kammerspiel aus.
Wie ihr 2020 zur Berlinale wechselnder Vorgänger Carlo Chatrian gibt die neue Festivalleiterin Lili Hinstin dem Autorenkino großen Raum. Die französische Kulturmanagerin hatte sich im Vorfeld aber auch gegen politische Korrektheit im Kino ausgesprochen und damit vor allem verteidigt, dass sie Quentin Tarantinos Film „Once Upon A Time in Hollywood“ auf dem Piazza Grande ansetzte, wofür sie brutaler Szenen wegen kritisiert worden war.
Mit einer dem „Black Cinema“ gewidmeten Retrospektive und einem südkoreanischen Beitrag zum Thema sexueller Missbrauch, der den Spezialpreis der Jury gewann, ging Hinstin gleichwohl keine politischen Risiken ein. Ein politisch unkorrekter, kritischer Beitrag zu Themen wie Migration, Globalisierung oder Genderdebatten, die Gesellschaften stark spalten, verirrte sich jedenfalls nicht ins Programm.
Dem Auftrag, sich verstärkt um ein junges Publikum zu kümmern, ist die französische Kulturmanagerin bereits klug nachgekommen: Das neue BaseCamp in einer ehemaligen Kaserne bietet 200 Cinephilen zwischen 18 und 30 Jahren eine günstige Unterkunft und einen Raum für nächtliche Partys. Zudem erhofft sich Hinstin von der neuen Reihe „Crazy Midnight“ unter freiem Himmel auf dem Piazza Grande mehr Zulauf von der Jugend. Die Idee ist gut, nur sollte die Schiene noch anspruchsvoller werden. Ausgerechnet die Komödie „Die fruchtbaren Jahre sind vorbei“, einer der wenigen Beiträge aus der heimischen Schweiz, in der eine Mittdreißigerin mit wachsender Hysterie nur das eine Ziel verfolgt, endlich schwanger zu werden, wirkte oberflächlich.
Weitaus vielschichtiger widmete sich die anrührende argentinisch-italienische Koproduktion „Maternal“ jungen, naiven, verarmten Müttern, die von einem Traumprinzen träumen. Ein katholisches Heim für Teenager-Mütter in Buenos Aires wird hier zum Schauplatz konträrer Welten. Überwältigt von sexuellen Trieben und romantischen Illusionen stürzt sich eine der Minderjährigen, ungeachtet schlechter Erfahrungen, in die nächste unglückliche flüchtige Affäre und lässt ihre kleine Tochter zeitweise im Heim allein zurück. Dagegen steht die enthaltsame, weltfremde Welt der Nonnen, die den Mädchen kaum etwas bieten können außer ihrer Barmherzigkeit, und mitunter in Konflikte geraten, wenn die Babys und Kleinkinder ihrer Schützlinge unerwartet mütterliche Instinkte in ihnen wecken.
Locarno steht gleichwohl vor einem Problem: Nur noch wenige Filmschaffende erzählen Geschichten. Vielleicht liegt es darin, dass so großen Themen wie Liebe, Tod, Schmerz oder Abschied schon tausendfach erzählt wurden. Sind sie am Ende schon auserzählt?
Das wäre freilich sehr betrüblich.
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