Rebecca Zlotowski
Paris (Weltexpresso) - Eine Figur à la Rohmer. Ich musste sofort an „Die Sammlerin“ denken, einen meiner Lieblingsfilme von Rohmer – für mich ist es sein sinnlichstes, erotischstes, ja verstörendstes Werk. Dieser wahnsinnig schnell gedrehte Film kam 1969 in die Kinos und beschäftigt sich auf brillante Weise mit der sexuellen Befreiung. In einer Szene sagt Daniel Pommereulle zu Haydée Politoff: „Du stehst auf der untersten Stufe der menschlichen Leiter“, und das entspricht exakt dem, was die Öffentlichkeit lange Zeit über Zahia Dehar dachte, vermutlich sogar heute noch. Für mein Projekt ergab sich daraus die Frage: Wie sähe „Die Sammlerin“ aus, wenn man sie 2019 drehte? Wie würde diese moralische Erzählung ausfallen, wenn man sie auf die gleiche Weise erzählt, also mit den Werkzeugen des Kinos und der Literatur, sanft, lustvoll, sinnlich? Ich war der Ansicht, dass es sich um ein lohnendes Thema handelt.
Eine unmoralische Sommergeschichte
Zusammen mit Teddy Lussi-Modeste habe ich den Film ziemlich schnell entwickelt, und zwar als eine Art unmoralische Sommergeschichte. Als Märchen über Macht, die hier auch sexueller Natur ist. In „Die Sammlerin“ ging es um Dominanz, Ausbeutung, Liberalismus, Zynismus und Naivität, um Unbekümmertheit und Pragmatismus, um Disziplin und Liebesspiele. Ich wollte absolut kein Remake drehen, weder originalgetreu noch eigenständig, aber mir schwebte eine Art Dialog zwischen EIN LEICHTES MÄDCHEN und Rohmers Film vor – und dabei sollte ein ganz und gar zeitgenössisches Werk entstehen, leicht, schnell, lebendig. Aber auch ein Dialog zwischen den weiteren Einflüssen, die das Unterbewusstsein meines Films prägen: das Italien in Zurlinis „Das Mädchen mit dem leichten Gepäck“, jenes Mädchen, das von Pietro Germi erst verführt und dann verlassen wird, die Gitarre aus „Nur die Sonne war Zeuge“ von René Clément, die zwei Freundinnen aus „Adieu Philippine“, die Aufreißer aus Jacques Roziers Kurzfilm „Blue jeans“ – bei all dem handelt es sich um mein ganz persönliches Mini-Pantheon.
Ein Dialog mit all diesen Filmen, in denen es eher ums Abenteuer, als um die Liebe geht. Nicht um Gefühle, sondern um Empfindungen. Ein perfektes Sujet fürs Kino. Ich empfinde es als sehr zeitgemäß, Sofia nicht als gerissene junge Frau zu zeigen, die aufgrund ihrer gefühlsmäßigen Unreife nach Liebe giert, weil sie tief im Inneren Verletzungen mit sich herumträgt, was sie ja wiederum zu einem Opfer machen würde.
In den Augen ihrer jüngeren Cousine Naïma verkörpert Sofia ein ausgesprochen positives Vorbild in Sachen Unabhängigkeit, eine Unabhängigkeit, die ihr fehlt, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihren Weg zu gehen, ganz gleich, ob dieser Weg durch die Schule führt und eine Ausbildung zur Köchin – zugegebenermaßen ein eher traditioneller Weg, der aber ebenfalls viel Mut erfordert. Es war ihr Mut, der mich sofort für die junge Mina Farid, die in meinem Film zum ersten Mal vor der Kamera steht, einnahm. Ich traf sie während des Festivals in Cannes, vor gerade mal einem Jahr. Sie lebte in Cannes, und wir wussten, dass wir an der Côte d'Azur drehen würden, in welcher Stadt genau wussten wir allerdings noch nicht.
Was wir unbedingt brauchten, waren Yachten und davor Caféterrassen mit neugierigen Touristen – dieses Bild hatte sich von Anfang an in meinem Kopf festgesetzt. Als Mina zum Casting kam, hatte ich den Eindruck, dass sie es ist, die mit mir ein Vorsprechen veranstaltet. Ihre kindliche, bockige, nicht alltägliche Stärke nahm mich sofort gefangen. 16 Jahre Ich erkannte bei ihr eine ähnliche Persönlichkeitsentwicklung wie bei Léa Seydoux in „Belle Épine“, meinem ersten Film – insofern könnte man EIN LEICHTES MÄDCHEN als Kehrseite der Medaille bezeichnen, sonnig, optimistisch, offen und sommerlich. 16 ist ein Alter, das ich spannend finde und das mich berührt, weil es auf paradoxe Weise von Härte und Zähigkeit zeugt – auch wenn wir eher dazu neigen, diese Zeit mit Unbekümmertheit gleichzusetzen. Für mich jedoch handelt es sich um ein angstbesetztes Alter, in dem jede Entscheidung das Schicksal beeinflussen kann und stets das Risiko besteht, nicht die richtige zu treffen. Ein Alter aber auch, in dem es im Grunde genügt, seinem Weg zu folgen – Hauptsache, er führt nach oben.
Die Art, wie Naïma die künstliche, moderne, perfekte Schönheit von Sofia betrachtet; wie sie diesem verführerischen, süßen Leben erliegt; die Art, wie sie sich von Sofias Innenleben berühren lässt, das viel komplexer ist, als es scheint; das familiäre Wohlwollen, mit dem sie ihr sofort begegnet – all das interessierte mich brennend, weil es mir half, mit den üblichen Klischees über weibliche Rivalität und Klassenkonflikte aufzuräumen. Ich finde, wir könnten viel von Naïmas Generation lernen.
Eine weibliche Stimme
EIN LEICHTES MÄDCHEN ist also nicht die realistische Coming-of-Age-Story zweier junger Frauen mit nordafrikanischen Wurzeln, die den Sommer zusammen mit einer feierwütigen Clique an der Côte d'Azur verbringen. Sondern vielmehr ein poetisches Märchen, das sich aus dieser Handlung speist. Mir ging es darum, die flüchtigen Seiten des Films zu betonen, das Flimmern und die Sonne, die ihn erstrahlen lässt, sein in sich gekehrtes, literarisches Verlangen. Mit literarisch meine ich beispielsweise die Anspielung auf Pessoas „Ein anarchistischer Bankier“ in einer sehr langen Sequenz des Films. In dieser wunderbar intelligenten Erzählung geht es um Widersprüche und Liberalismus, sie greift das absolute Paradox auf, nämlich auf der einen Seite Zuschauer und Bankier zu sein und Anarchist auf der anderen. So wie man sich durchaus jemandem spontan sexuell hingeben kann und dabei dennoch sein Geheimnis und seine Stärke bewahrt.
Als literarisch empfinde ich auch die Erzählstimme aus dem Off, die ich schon länger als Stilmittel nutzen wollte. Nicht nur, weil es sich um eine schöne Tradition einer bestimmten Art des französischen Kinos handelt. Darin drückt sich auch meine politische Ambition aus, die Untiefen einer Geschichte zu ergründen, die eine junge Heldin erzählt – nicht wie sonst üblich ein junger Mann, der sich in den Widersprüchen seines intimen Tagebuchs verstrickt. Ich wollte diese Off-Stimme einer der beiden Sammlerinnen geben. Und aus dem Film ein zeitgenössisches Märchen machen. Musik Ich hatte die Musik schon lange im Kopf, sie sollte mit der Modernität der Körper und Schauplätze kontrastieren. Von Ravels „Wasserspielen“ bis zu Poulenc... die pure Romantik des 19. Jahrhunderts. Dazu eines meiner Lieblingsstücke von Schubert, aber auf der Gitarre gespielt. Eine Melodie, die jeder kennt. Die französische Eighties-Band Niagara für die Liebe am Strand... Ich brauchte Musik, mit der das Publikum vertraut ist. Deshalb gab ich zum ersten Mal keinen Originalsoundtrack in Auftrag. Eine kleine Revolution für mich und meine Art zu arbeiten.
Foto:
©
Info:
EIN LEICHTES MÄDCHEN OT: Une fille facile
Ein Film von Rebecca Zlotowski Mit Mina Farid, Zahia Dehar, Benoît Magimel, Nuno Lopes u.v.a.
Frankreich 2019 / ca. 92 Min.
In den Augen ihrer jüngeren Cousine Naïma verkörpert Sofia ein ausgesprochen positives Vorbild in Sachen Unabhängigkeit, eine Unabhängigkeit, die ihr fehlt, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und ihren Weg zu gehen, ganz gleich, ob dieser Weg durch die Schule führt und eine Ausbildung zur Köchin – zugegebenermaßen ein eher traditioneller Weg, der aber ebenfalls viel Mut erfordert. Es war ihr Mut, der mich sofort für die junge Mina Farid, die in meinem Film zum ersten Mal vor der Kamera steht, einnahm. Ich traf sie während des Festivals in Cannes, vor gerade mal einem Jahr. Sie lebte in Cannes, und wir wussten, dass wir an der Côte d'Azur drehen würden, in welcher Stadt genau wussten wir allerdings noch nicht.
Was wir unbedingt brauchten, waren Yachten und davor Caféterrassen mit neugierigen Touristen – dieses Bild hatte sich von Anfang an in meinem Kopf festgesetzt. Als Mina zum Casting kam, hatte ich den Eindruck, dass sie es ist, die mit mir ein Vorsprechen veranstaltet. Ihre kindliche, bockige, nicht alltägliche Stärke nahm mich sofort gefangen. 16 Jahre Ich erkannte bei ihr eine ähnliche Persönlichkeitsentwicklung wie bei Léa Seydoux in „Belle Épine“, meinem ersten Film – insofern könnte man EIN LEICHTES MÄDCHEN als Kehrseite der Medaille bezeichnen, sonnig, optimistisch, offen und sommerlich. 16 ist ein Alter, das ich spannend finde und das mich berührt, weil es auf paradoxe Weise von Härte und Zähigkeit zeugt – auch wenn wir eher dazu neigen, diese Zeit mit Unbekümmertheit gleichzusetzen. Für mich jedoch handelt es sich um ein angstbesetztes Alter, in dem jede Entscheidung das Schicksal beeinflussen kann und stets das Risiko besteht, nicht die richtige zu treffen. Ein Alter aber auch, in dem es im Grunde genügt, seinem Weg zu folgen – Hauptsache, er führt nach oben.
Die Art, wie Naïma die künstliche, moderne, perfekte Schönheit von Sofia betrachtet; wie sie diesem verführerischen, süßen Leben erliegt; die Art, wie sie sich von Sofias Innenleben berühren lässt, das viel komplexer ist, als es scheint; das familiäre Wohlwollen, mit dem sie ihr sofort begegnet – all das interessierte mich brennend, weil es mir half, mit den üblichen Klischees über weibliche Rivalität und Klassenkonflikte aufzuräumen. Ich finde, wir könnten viel von Naïmas Generation lernen.
Eine weibliche Stimme
EIN LEICHTES MÄDCHEN ist also nicht die realistische Coming-of-Age-Story zweier junger Frauen mit nordafrikanischen Wurzeln, die den Sommer zusammen mit einer feierwütigen Clique an der Côte d'Azur verbringen. Sondern vielmehr ein poetisches Märchen, das sich aus dieser Handlung speist. Mir ging es darum, die flüchtigen Seiten des Films zu betonen, das Flimmern und die Sonne, die ihn erstrahlen lässt, sein in sich gekehrtes, literarisches Verlangen. Mit literarisch meine ich beispielsweise die Anspielung auf Pessoas „Ein anarchistischer Bankier“ in einer sehr langen Sequenz des Films. In dieser wunderbar intelligenten Erzählung geht es um Widersprüche und Liberalismus, sie greift das absolute Paradox auf, nämlich auf der einen Seite Zuschauer und Bankier zu sein und Anarchist auf der anderen. So wie man sich durchaus jemandem spontan sexuell hingeben kann und dabei dennoch sein Geheimnis und seine Stärke bewahrt.
Als literarisch empfinde ich auch die Erzählstimme aus dem Off, die ich schon länger als Stilmittel nutzen wollte. Nicht nur, weil es sich um eine schöne Tradition einer bestimmten Art des französischen Kinos handelt. Darin drückt sich auch meine politische Ambition aus, die Untiefen einer Geschichte zu ergründen, die eine junge Heldin erzählt – nicht wie sonst üblich ein junger Mann, der sich in den Widersprüchen seines intimen Tagebuchs verstrickt. Ich wollte diese Off-Stimme einer der beiden Sammlerinnen geben. Und aus dem Film ein zeitgenössisches Märchen machen. Musik Ich hatte die Musik schon lange im Kopf, sie sollte mit der Modernität der Körper und Schauplätze kontrastieren. Von Ravels „Wasserspielen“ bis zu Poulenc... die pure Romantik des 19. Jahrhunderts. Dazu eines meiner Lieblingsstücke von Schubert, aber auf der Gitarre gespielt. Eine Melodie, die jeder kennt. Die französische Eighties-Band Niagara für die Liebe am Strand... Ich brauchte Musik, mit der das Publikum vertraut ist. Deshalb gab ich zum ersten Mal keinen Originalsoundtrack in Auftrag. Eine kleine Revolution für mich und meine Art zu arbeiten.
Foto:
©
Info:
EIN LEICHTES MÄDCHEN OT: Une fille facile
Ein Film von Rebecca Zlotowski Mit Mina Farid, Zahia Dehar, Benoît Magimel, Nuno Lopes u.v.a.
Frankreich 2019 / ca. 92 Min.