08 SYSTEMSPRENGERSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 19. September 2019, Teil 6

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Benni (Helena Zengel) liegt mit völlig verkabeltem Kopf im Klinikbett. Ein Neurologe ist auf der Suche nach ihrer Unbeherschtheit und der Wunderpille für sie: „Du kannst Dich besser kontrollieren wenn Du Dich aufregst!“ Doch kaum ist das Mädchen aus dem Spital heraus: Rasendes Geschrei. Grellfarbenes Flackerlicht. Aufblitzende Rückblenden. Schrille Geräusche. Dazwischen Schluchzer: „Nein! Ich will nicht in die neue WG. Ich will zu Mama!“ Wilde nervöse Bild-Collagen ziehen uns in Bennis Kopf hinein. Schnell sucht man als Zuschauer nach Schubladen für die Neunjährige: „Hat die ADHS?“ „Eine Bindungsstörung?“

Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Streifen ist keine Sozialschmonzette über ein unzähmbares Kind, wie sie schon mehrfach erzählt wurde. Doch solch einen Spielfilm mit dieser Intensität und neuer cineastischer Ästhetik gab es noch nie im kommerziellen Kino: Zu recht erhielt „Systemsprenger“ auf der letzten Berlinale einen Silberbären für „neue Perspektiven der Filmkunst.“ Er wurde auch für den aktuellen Europäischen Filmpreis und als deutscher Beitrag in die Auswahl fünf fremdsprachiger Streifen für den nächsten Oscar nominiert.

Aber erzählen wir der Reihe nach: Bennis Mutter (Lisa Hagmeister) hat noch zwei kleine Kinder und kommt mit ihrer ältesten Tochter einfach nicht klar, die muss deshalb immer wieder ins Heim oder zu Pflegefamilien. Auch aus der neuen WG flüchtet sie, klaut eine wertvolle Gucci-Tasche für Mama und will zu ihr. Doch wenn sie Zuhause auftaucht, gibt es wie immer Stress mit den Geschwistern. Der Freund der Mutter sperrt sie in einen dunklen Schrank, bevor die Polizei sie abholt und zur Inobhutnahme bringt. Alle Betreuende, die warmherzige Frau vom Jugendamt und andere engagierte Professionelle tun was sie können. Doch das unbändige Mädchen kann sich einfach nicht anpassen, kann ihre leidenschaftlichen Gefühle nicht kontrollieren. Vor Freude hüpft sie auf Tischen herum, vor Wut wirft sie mit Stühlen. Wer sie „Psycho“ heißt, wird verprügelt und gebissen. Von der professionellen Distanz der Betreuerinnen und Betreuer hält Benni gar nichts: Wenn sie sich geliebt fühlt, will sie bleiben.

Mehr als zwei Dutzend Einrichtungen zur Jugendhilfe aus der Stadt oder dem Umland weigern sich, sie aufzunehmen. Benni sprengt das System der Jugendhilfe, „Systemsprenger“ werden solche, meist ältere männliche Jugendliche genannt.  Doch für eine geschlossene Unterbringung im „Jugendknast“ ist sie noch viel zu jung. Eines Tages schlägt ihr neuer Schulbegleiter Micha (Albrecht Schuch) vor, als erlebnispädagogische Maßnahme drei Wochen mit Benni im Wald zu leben. Da ist dann ordentlich was los, aber die Zähmung der Widerspenstigen gelingt. Doch zurück in der Zivilisation bricht das Chaos aus, denn Micha kann natürlich nicht ihr Vater werden...

Als Zuschauer muss man dieses Kind einfach liebhaben, man kann es gut verstehen - aber es geht einem auch mächtig auf den Geist. Angst und Einsamkeit hinter der Aggressivität des Kindes werden deutlich spürbar. Offen bleibt das Ende des Films: Beeindruckt von Bennis kämpferischer Energie und verführt von ihrem Charme, kommt man fasziniert aber ratlos aus dem Kino. Die im letzten Jahr beim Dreh bereits zehnjährige Helena Zengel spielt das Mädchen einfach unglaublich authentisch und mit großer Präsens.

Hoffnung auf einen Oscar?! Ja.

Pressekonferenz auf der Berlinale:
Auf der Pressekonferenz der Berlinale zum Film erzählen uns Regisseurin Nora Fingscheidt und Helena, wie sie Bennis Rolle erarbeiteten: Am Vortag des jeweiligen Drehtags beschäftigten sie sich mit den anstehenden Szenen: Worum geht es darin? Helena spielte, was sie selbst in der jeweiligen Situation tun würde. Dann kamen die Fragen, wie und warum ist Benni anders? Mit der dadurch geschaffenen Distanz konnte die junge Schauspielerin Benni beim Dreh überzeugend darstellen.

Foto:
Helena Zengel als Benni
© Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

Info:
„Systemsprenger“ D 2018, 119 Minuten, Filmstart 19. September 2019
Regie Nora Fingscheidt mit Helena Zengel, Lisa Hagmeister, Albrecht Schuch u.a.