Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2019, Teil 16
Claus Wecker
Es gab in diesem Jahr nicht wenige Berlinale-Besucher, die »So Long, My Son« – unter diesem Titel war »Bis dann, mein Sohn« im Wettbewerb zu sehen – für den besten Film des Festivals hielten. Das wundert nicht, denn in dieser Chronik zweier chinesischer Familien ist es gelungen, die Schicksale einzelner Menschen mit der geschichtlichen Entwicklung des Landes eindrucksvoll zu verbinden.
Das ist bei umso bemerkenswerter, als einige Kapitel in der Historie der Volksrepublik China tabuisiert sind oder in unseren Augen gar nicht als problematisch wahrgenommen werden. Wie etwa die Ein-Kind-Politik, die gerade aus heutiger Sicht sehr sinnvoll erscheint, wenn man bedenkt, dass mit der Anzahl der Menschen auch die Umweltprobleme wachsen. Was geschah aber mit einer Frau, die zum zweiten Mal schwanger wurde?
In »Bis dann, mein Sohn« werden die herzzerreißenden Konsequenzen gezeigt, wenn Wang Liyun einen Schwangerschaftsabbruch verweigert. Als sich ihr Zustand nicht mehr verheimlichen lässt, wird sie unter handgreiflichen Protesten ihres Mannes Liu Yaojun abgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Und als ob das nicht schon grausam genug wäre, werden beide in der Fabrik, in der sie arbeiten, für ihr vorbildliches Einhalten der politischen Richtlinie ausgezeichnet.
Gerade ihr kleine Sohn Xingxing, kurz Xing genannt, ertrinkt danach beim Spielen, und sein am selben Tag geborener bester Freund wird beschuldigt, Xing nicht am Ufer zurückgehalten zu haben. Der Vorfall bringt auch die beiden befreundeten Elternpaare auseinander. Liu Yaojun und Wang Liyun werden den Ort verlassen und einen Jungen adoptieren, den sie ebenfalls Xing nennen. Er ist wohl die Frucht von Lius Affäre mit einer jungen Frau, die ihn maßlos bewundert. Vor Ehefrau Wang Liyun werden die Affäre und die Herkunft des Jungen allerdings geheimgehalten.
Von den 1980er-Jahren bis in die Gegenwart erstreckt sich die Erzählung des Films, und so wird auch die unglaubliche Veränderung des Landes von der Zeit nach Mao bis zu kapitalistischen Wirtschaftsordnung deutlich. Wenn zu Beginn des Zeitraums noch der Verlobte eines weiteren Paares wegen der Teilnahme an einer verbotenen Party im Gefängnis landete und dort vom besuchenden Freundeskreis aufgemuntert wurde, herrschen später frühkapitalistische Zustände. In einer Wirtschaftsflaute hagelt es plötzlich Entlassungen. Vor versammelter Belegschaft werden die Namen der »Genossen« verlesen, die bis dahin sichere Arbeitsplätze hatten. Der Betriebsleiter kommt nicht dazu, die Liste bis zum Ende vorzulesen, weil tumultartige Proteste einsetzen.
Regisseur Wang Xiaoshuai, der für »Beijing Bicycle« 2001 bei der Berlinale einen Silbernen Bären als Großen Preis der Jury erhielt, erzählt seine Geschichte mit den vielen Strängen nicht chronologisch – der Film beginnt mit Xins Unfall –, doch er fesselt die Zuschauer dadurch umso mehr. »Bis dann, mein Sohn« ist wie ein Mosaik, dessen Teile schließlich zueinander finden, oder wie eine anschauliche Erzählung, in der vorheriges eingeflochten und wichtiges vorweggenommen wird. Man kann sich beruhigt zurücklehnen und dem Regisseur vertrauen.
So vergehen die drei Filmstunden wie im Fluge, ja man könnte noch länger diesem Figurenensemble zuschauen, aus dem Wang Jingchun in der Rolle des Liu Yaojun und Yong Mei als Wang Liyun herausragen. Zu Recht wurden beide für ihre schauspielerischen Leistungen mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.
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Info:
BIS DANN, MEIN SOHN (Di jiu tian chang)
von Wang Xiaoshuai, CHN 2019, 185 Min.
mit Wang Jing-chun, Yong Mei, Qi Xi, Roy Wang, Du Jiang, Ai Liya
Drama / Start: 14.11.2019