f malerinSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. Oktober 2019, Teil 9

Redaktion 

Paris (Weltexpresso) -  Bisher waren Ihre Filmstoffe immer kontemporär. Man kennt Sie als Regisseurin unserer Zeit. Warum haben Sie sich entschlossen, mit Ihrem neuen Film in das 18. Jahrhundert zurückzugehen?

Ein Thema mag in der Vergangenheit angesiedelt sein. Das heißt aber nicht, dass es nicht aktuell sein kann. Speziell, wenn es sich um ein Thema handelt, das nicht besonders bekannt ist: die Geschichte weiblicher Künstler, ja, sogar Frauen im Allgemeinen. Als ich mit meinen Recherchen begann und mich in das Thema vertiefte, wusste ich selbst nur sehr wenig über die Realität weiblicher Künstler jener Zeit. Ich kannte nur die bekannten Namen, die mir bestätigten, dass es überhaupt welche gab: Élisabeth Vigée-Lebrun, Artemisia Gentileschi oder Angelika Kauffmann. Obwohl es mühselig war, Informationen und Archivmaterial zu finden, wurde mir schnell klar, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine spürbare Zunahme von Frauen in der Kunstwelt zu verzeichnen war. Malerinnen gab es zuhauf, viele hatten richtige Karrieren, was wohl auch daran lag, dass Porträts in Mode waren. Es gab weibliche Kunstkritiker, den Ruf nach mehr Gleichheit und Sichtbarkeit, all das war da. In diesem Kontext gab es etwa 100 Malerinnen, die ein erfolgreiches Leben in diesem Metier verzeichnen konnten. Viele von ihnen finden sich in den Sammlungen großer Museen. Aber in den zeitgenössischen Berichten spielen sie keine Rolle. Als ich die Arbeiten dieser vergessenen weiblichen Maler entdeckte, war ich wie elektrisiert, aber es machte mich auch traurig. Traurig, dass ihre Arbeiten geheim blieben, verdammt zur Anonymität. Nicht nur die Erkenntnis, wie die Kunstgeschichte sie in die Unsichtbarkeit zwang, sondern auch die Konsequenzen daraus: Wenn ich mir diese Bilder ansehe, verstören sie mich und bewegen mich, weil ich sie mein ganzes Leben lang vermissen musste.


Wie sind Sie an die Inszenierung herangegangen, gerade im Hinblick darauf, eine Epoche der Zeitgeschichte nachzustellen?

Zunächst einmal scheint ein Film mit Kostümen aus einer anderen Zeit mehr Arbeit in Anspruch zu nehmen. Er benötigt mehr Menschen, Techniken, Experten, die Anforderungen liegen höher und zudem beschleichen einen mehr Ängste wegen der Nachstellung dieser Zeit. Dabei ist der Arbeitsprozess derselbe wie immer. Wenn man erst einmal Anachronismen eliminiert hat, behandeln wir die historische Wahrheit der Kulissen und Kostüme genauso wie die Realität in einem kontemporären Film. Die Frage ist doch immer die gleiche: Welches Vorstellungsvermögen wird in Zusammenarbeit mit der Wahrheit eingesetzt.

Paradoxerweise hatten wir mit PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN im Vergleich zu meinen anderen Filmen am wenigsten Arbeit mit den Sets. Wir drehten in einem Schloss, das seit langer Zeit unbewohnt ist und nicht wieder neu hergerichtet wurde. Die Holzarbeiten, Farben und Parkettböden sind wie in der Zeit eingefroren. Unsere Arbeit fokussierte sich also mehr auf Anproben und Requisiten, auf Material, Holz und Stoffe.

Für mich war das Kreieren der Kostüme Neuland. Mit diesem Maß an Präzision eingreifen zu können, ist sehr aufregend. Besonders, weil ich pro Figur eine Uniform haben wollte. Darauf haben sich Dorothée Guiraud und ich bei unserer Zusammenarbeit konzentriert. Es ist eine Form der maßgeschneiderten Charakterisierung, weshalb wir uns mehr denn je mit der Politik der Kleidung befassen mussten. Die Wahl der Schnitte und der Materialien – insbesondere ihr Gewicht – beschreibt gleichzeitig die Soziologie der Figur, historische Wahrheit und die Darstellung der körperlich eingeschränkten Schauspielerinnen. Mir war es beispielsweise wichtig, dass Marianne Taschen hatte. Weil es zu der Figur passte, aber auch weil Taschen für Frauen am Ende des Jahrhunderts verbannt wurden und verschwanden. Mir gefiel die Idee dieser Silhouette, so modern, die rehabilitiert wurde, als man sie wiedererweckte.

Als ich über den Film zu träumen begann, bestand die große Herausforderung für mich bei der historischen Nachstellung im Intimen, der Wiedergabe von Emotion. Obwohl diese Frauen wussten, dass ihr Leben vorbestimmt war, erlebten sie etwas anderes. Sie waren neugierig, intelligent und wollten lieben. Ihr Begehren mag Teil einer Welt sein, die so etwas verbietet, aber in der es dennoch besteht. Ihre Körper werden zu ihren eigenen, wenn es ihnen erlaubt wird, sich zu entspannen, wenn ihre Wachsamkeit nachlässt, wenn das Regiment des Protokolls nicht länger greift, wenn sie alleine sind. Ich wollte ihnen ihre Freundschaften und ihre Fragen zurückgeben, ihre Einstellung, ihren Humor, ihr Bedürfnis zu rennen.


Die Besetzung ist entscheidend, wenn es um diese Fragen der Darstellung geht.

Die Rolle der Héloïse habe ich mit Adèle Haenel im Hinterkopf geschrieben. Die Figur schrieb sich wie von selbst, basierend auf all den Qualitäten, die Adèle in den letzten Jahren offenbart hat. Aber ich habe sie auch geschrieben, weil ich die Ambition hatte, Adèle ihr Instrument auf eine neue Weise spielen zu lassen. Seiten zu zeigen, die wir von ihr noch nicht gesehen haben. Seiten, die ich in manchen Fällen selbst noch nicht kannte, auch wenn ich von ihnen schon geträumt hatte. Die Rolle ist emotional und intellektuell, und weil Adèle ihre Rollen komplett verinnerlicht und niemals aufhört, sich gedanklich damit zu befassen, gelingt es ihr auf verblüffende Weise, den Bedürfnissen und Gedanken dahinter Ausdruck zu verleihen. Wir haben am Set mit großer Präzision gearbeitet, vor allem an ihrer Stimme. Diese Zusammenarbeit ist der Kern des Films, womit mit der Idee aufgeräumt wird, dass eine „Muse“ im Mittelpunkt einer kreativen Beziehung zwischen Sehender und Gesehener stehen muss. In unserem Studio gibt es keine Muse, sondern zwei Mitstreiter, die einander inspirieren.


Neben Adèle Haenel gibt es noch ein neues Gesicht zu entdecken.

Ein neues Gesicht für mich, aber keine Anfängerin. Ich hatte den Eindruck, dass eine erste Zusammenarbeit mit einer Schauspielerin immens zum Gelingen des Films und der Geschichte beitragen könnte, besonders was die Dynamik in der Liebesbeziehung anbetrifft. Ich war interessiert daran, ein Zweiergespann zu erschaffen – ein Filmpaar, das etwas Ikonisches ausstrahlen und daher etwas ganz Besonderes sein würde. Marianne ist in jeder Szene des Films zu sehen. Deshalb war es entscheidend, eine sehr starke Schauspielerin zu besetzen. Noémie Merlant ist eine entschlossene, mutige und emotionale Darstellerin. Sie zeichnet eine Mischung aus Präzision und Exzess aus, was die Erfindung ihrer Figur aufregend machte, sie offenbarte sich nach und nach, während wir arbeiteten. Als ob diese Marianne tatsächlich irgendwo existieren würde. Vieles davon bin ich Noémie schuldig.


PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN ist Ihr erster Film, in dem Sie der Liebe auf den Grund gehen.

Ganz am Anfang stand mein Bedürfnis, eine Liebesgeschichte zu drehen. Beim Schreiben kämpften zwei gegensätzliche Wünsche in mir. Zum einen wollte ich Schritt für Schritt zeigen, wie es ist, wenn man sich ineinander verliebt, das pure Erlebnis, die ganze Wonne. Die Inszenierung legt dabei den Fokus auf Verwirrung, Zögern, den romantischen Austausch. Zum anderen wollte ich das Echo einer Liebesaffäre einfangen, wie es in uns in seiner vollen Größe weiterlebt. Hier legt die Inszenierung den Fokus auf Erinnerung. Der Film ist eine Erinnerung an diese Liebe. Der Film ist für die Figuren und das Publikum als Erfahrung entworfen, die sowohl den Genuss der Leidenschaft in der Gegenwart wie auch den Genuss der emanzipatorischen Fiktion einfängt. Diese duale Zeithaftigkeit erlaubt es uns, die Emotion zu spüren und darüber zu reflektieren.

Es bestand aber auch das Bedürfnis nach einer Liebesgeschichte, der Gleichheit zugrunde liegt. Schon beim Casting war Christel Baras und mir diese Balance wichtig. Ich wollte eine Liebesgeschichte, die nicht auf Hierarchien und Machtstrukturen beruht, wie sie vor dem Treffen der beiden Frauen bestehen. Das Gefühl des Dialogs, der erfunden wird und uns überrascht, sollte Raum erhalten. Der ganze Film ist diesem Prinzip der Beziehung zwischen den Figuren untergeordnet. Hier gehört auch die Freundschaft mit der Zofe Sophie dazu, die weit über Klassenzugehörigkeit hinausgeht. Oder die ehrlichen Diskussionen mit der Herzogin, die selbst Bedürfnisse und Sehnsüchte hat. Ich wollte Solidarität und Ehrlichkeit zwischen den Figuren.


Wie sind Sie an die Malerei im Film herangegangen?

Zunächst entschied ich mich dazu, eine Malerin zu erfinden und nicht auf eine bestehende Figur zurückzugreifen. Das erschien mir richtig in Bezug auf die Karrieren dieser Frauen, für die es nur die Gegenwart gibt: Eine Malerin zu erschaffen, war ein Weg, an alle auf einmal zu denken. Unser historischer Berater, ein Kunstsoziologe, der auf Maler dieser Zeit spezialisiert ist, half uns dabei, aus Marianne überzeugend eine Malerin des Jahres 1770 zu machen.

Ich wollte die Figur bei der Arbeit zeigen, in allen möglichen Phasen eines Werks. Und es war wichtig, ihre Gemälde zu erfinden. Ich wollte mit einer Künstlerin arbeiten und nicht mit Handwerkern, die perfekt kopieren können. Eine 30-jährige Malerin, die im Hier und Jetzt arbeitet. Durch meine Recherche über weibliche Maler stieß ich auf die Arbeit von Hélène Delmaires. Sie hatte eine klassische Ausbildung in Ölgemälden und war ziemlich vertraut mit Techniken des 19. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Kamerafrau Claire Mathon konzentrierten wir uns als Trio auf diese duale Angelegenheit, nämlich das Erschaffen der Gemälde und das Malen der Gemälde im Film. Wie wir sie filmen und in welchem Zeitrahmen. Wir drehten verschiedene Phasen der Arbeit, aber stets in kompletten Einstellungen. Weil wir uns gegen Überblendungen entschieden, wurde die Struktur gestärkt. Wir entschieden uns für Realzeit bei den Bewegungen und den Rhythmus der Malerin anstatt für die Synthese, die uns im Schnitt zur Verfügung gestanden wäre.


Abgesehen von zwei musikalischen Momenten, die eine Rolle in der Handlung spielen, gibt es keine Musik in Ihrem Film.

Ich hatte bereits beim Schreiben geplant, einen Film ohne Filmmusik zu machen. Diese Idee musste bereits im Vorfeld durchdacht werden. Besonders in einer Liebesgeschichte, wo sich die Emotion häufig durch Musik ausdrückt. Wir mussten das beim Rhythmus der Szenen und ihrem Arrangement beachten. Man kann sich beispielsweise nicht auf Musik verlassen, wenn man sie verbindet. Es gibt keine „Notmusik“, auf die man zurückgreifen könnte. Wir haben es mit kompletten szenischen Einheiten zu tun. Einen Film ohne Musik zu machen, bedeutet, dass man besessen sein muss von Rhythmus. Man muss Musik auf andere Weise anklingen lassen, in den Bewegungen der Körper und der Kamera. Der Film besteht vor allem aus genau aufeinander abgestimmten Einstellungen und verlangt deshalb nach einer präzisen Choreographie.

Es war ein Risiko, aber ich habe es nicht als Herausforderung gesehen. Auch hier geht es im Grunde um Nachstellung. Ich wollte, dass Musik ein Teil des Lebens der Figuren ist, eine seltene, ersehnte, wertvolle, nicht vorhandene Sache. Und damit wollte ich den Zuschauer in denselben Zustand versetzen. Die Beziehung zu Kunst in diesem Film ist von grundlegender Bedeutung, weil die Figuren isoliert sind. Zunächst einmal von der Welt, dann aber auch voneinander. Der Film sagt uns auch, dass uns Kunst, Literatur, Musik und Kino manchmal erlauben, volle Kontrolle über unsere Emotionen zu geben.


Foto:
© Verleih

Info:
Ein Film von Céline Sciamma Mit Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajrami, Valeria Golino

Nachdruck aus dem Presseheft