Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. November 2019, Teil 7
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – ACHTUNG! START VERSCHOBEN AUF DEN 5. DEZEMBER!!! Es ist wie immer. Die harmlosesten Szenen arten zum größten Horror aus und das Alltägliche ist das eigentliche Furchterregende. Dieser Film nimmt einen wirklich mit. Aber, warum geht man ins Kino? Um sich wohlzufühlen und immer wieder dasselbe zu sehen oder sich auch einmal auf etwas einlassen, wie hier!
Warum wir so positiv gestimmt sprechen, hat einfach mit der letzten Szene zu tun, bzw. dem, was die verunsicherte und verunsichernde Tierärztin, Ehefrau und Mutter Ruth in Gang setzt und was uns allen, ob gottgläubig oder nicht, wie ein Akt der Wiedergutmachung durch das ganze Menschengeschlecht vorkommt, eine Wiedergutmachung an den Tieren der Welt, die durch die Menschen gemordet, gegessen, vernichtet, ausgerottet, zu Tierversuchen als Gegenstände herabgewürdigt, in Zoos eingesperrt, in kleinen engen Wohnungen eingepfercht, als Schoßhündchen mißbraucht werden undsoweiterundsofort.
Mit einem Wort: eine Szene, die einen ganzen Film wert ist, der ansonsten vom herben Gesicht Judith Hofmann zusammengehalten wird, die die Tierärztin Ruth spielt, die nach außen hin problemlos schon lange in einer Art Versuchsstation für Narkose zuständig ist, wenn nämlich Operationen an Versuchen mit Affen nötig sind, wobei wir Zuschauer dann solche Ungeheuerlichkeiten mitansehen müssen, wenn Affen ein anderer Affenkopf aufgepflanzt wird und wir uns fragen, wem der Kopf gerade abgeschnitten wurde, der nun einem anderen kunstvoll angenäht wurde und anwachsen soll. Grauslich. Denn ist klar, was hier an den Affen erprobt wird, ist für den Menschen gedacht. Immer wieder evoziert dieser Film, daß man weiterdenkt. Und das ist ja gut und nicht schlecht.
Dabei ist das mit den Affenoperationaen nur die beruflich schwierige Lage von Ruth, die sie auch, das haben wir schon angedeutet, auf ihre Art löst. Das andere und den Film Bestimmende ist ihre private Lebenssituation. Und die ist am Filmende eine völlig andere als zu Beginn. Fangen wir also mit dem Anfang an. Da denkt man erst, man sei in einen der pseudoreligiösen Filme geraten, wo eine evangelikale Sekte zu Gange ist. Ja und Nein, denn erst einmal sehen wir beim Essen am Familientisch den Vater, Hanspeter (Christian Kaiser) Gott danken für Speis und Trank, ein Verhalten, das jahrhundertelang völlig normal war, heute aber bei gelockerten profanen Familienessen leicht manisch wirkt, auf jeden Fall gestellt und gewollt, wozu die gepreßt fröhliche Art dann auch paßt. In dieser Familie stimmt was nicht, fühlt man.
Da nun liegt man nicht falsch. Der Vater, der einerseits dominiert, ist dennoch selbst untertan, denn die Familie ist Teil einer größeren Glaubensgemeinschaft, die sich ständig zusammenfindet und gemeinsam Gott feiert und sich ihm zu Füßen legt. Doch man merkt, man merkt es wirklich, daß irgendetwas Ungeheuerliches passiert, passieren wird. Und längst wissen wir nicht mehr ganz genau, ob wir uns im Kopf der Judith befinden, ihren Traum, ihre Phantasien mitleben oder ob die Handlungen parallel verlaufen. Möglich ist beides.
Und selten konnte man einen Film sehen, in dem Realität und Fiktion so dicht beieinander liegen, sich überlagern. Denn erst einmal kommt die Wirklichkeit knüppeldick, wenn die brave Ruth, als die wir sie ja bisher nur kennen, bei einem Privatdetektiv vorspricht, ihn engagiert und nach einer Person suchen läßt. Viel später wissen wir erst, daß dem ein Drama voranging. Ihre Jugendliebe wurde des Mordes angeklagt und auch verurteilt, obwohl er auf nichtschuldig plädierte. Nun ist er frei und verschwunden. Sie möchte beides wissen: Wo er sich aufhält und ob er damals schuldig war oder nicht.
Damit ist die Vergangenheit mitten in der Gegenwart und wir wundern uns kaum, wenn die Jugendliebe vor der Türe steht, Ruth in seinen Armen versinkt und ein Beischlaf auf dem besten Stück, der weißen Ledercouch stattfinden und der Geliebte anschließend verschwindet. Doch die prüde und schuldbewußte Ruth kommt dann wieder ans Licht, wenn sie mit allen Mitteln den Spermafleck auf dem guten Stück herauszureiben versucht. Beschmutzt bleibt beschmutzt und gegen Schluß wird die gesamte weißlederne Wohnlandschaft noch daran leiden.
Wohin ist er entschwunden, der Geliebte? Denn eigentlich müßte er tot sein, daß hat der Privatdetektiv herausgefunden. Und noch dazu in Indien?! Dort ist er auf dem Dach eine Zuges gefahren und wurde um einen Kopf, seinen nämlich, gekürzt. Schon wieder ein Kopf?! Aber wir haben ihn eben im Wohnzimmer der Familie gesehen und wieder müssen wir die Fragen selbst beantworten, wohin er entschwunden ist. Zurück in den Kopf von Judith oder in das Waldstück gegenüber dem Haus. Doch, das ist raffiniert gemacht, weil dadurch dem ganzen Film, der einen schon runterziehen könnte, etwas Spielerisches, nicht nur Mysteriöses anhaftet. Wenn dann am Schluß der Geliebte wieder auftaucht und schlapp am Beifahrerfenster hängt, während Ruth endlich mit befreitem Lächeln im Gesicht mit dem Wagen und ziemlicher Geschwindigkeit der Sonne und dem Licht entgegenfährt, dann weiß man, daß sie sich von etwas befreit hat.
Dazwischen gibt‘s noch jede Menge Teufelszeug, daß man in Zukunft die Bibelwütigen noch kritischer beäugen wird. Denn eigentlich sind in DER UNSCHULDIGE ja diese Gläubigen ständig mit ihren Familien in den heiligen Hallen der Kirche. Aber dann erwischt Ruth ihre brave Tochter bei männlichen Orgien mitten im Wald. Warum männlichen? Weil es nur um Kopulation geht, ziemlich primitiv, gewalttätig auch. Als Ruth der Tochter helfen will, wird sie verprügelt, was dann wieder die Tochter an die Mutter bindet und beide abhauen. Da ist also etwas los in diesem Film, den der Schweizer Regisseur Simon Jacquemet raffiniert komponiert hat.
Foto:
© Verleih
Info:
Darsteller
Judith Hofmann - Ruth
Naomi Scheiber - Naomi
Christian Kaiser - Hanspeter
Thomas Schüpbach - Andreas
Anna Tenta - Meike
Urs-Peter Wolters - Paul
Regie: Simon Jaquemet
Buch: Simon Jaquemet