f casSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2019, Teil 9

Redaktion

Paris (Weltexpresso) - „ALLES AUSSER GEWÖHNLICH ist kein Film über Autisten, sondern über das eigene Engagement und über Menschen, die sich um andere kümmern“ Wie war ihr erster Kontakt zu Éric Toledano und Olivier Nakache?

Als sie mir das Angebot machten, in ihrem nächsten Film mitzuspielen, erklärten sie mir gleichzeitig, wie sehr er ihnen am Herzen liegt. Sie befassten sich schon sehr lang mit dem Thema, hatten sich aber noch nicht bereit gefühlt, es filmisch umzusetzen. Ich erinnere mich, dass sie noch keine einzige Zeile geschrieben hatten, als wir uns trafen.


Es war Ihr Wunsch, mit ihnen zusammenzuarbeiten?

Ja und ich war sehr gespannt darauf! Ich kannte ihre Arbeit, ich sah, wozu sie fähig waren. Für mich besteht sehr gute Schauspielerführung in der Art wie ein Regisseur – oder in diesem Fall wie zwei Regisseure – einen Schauspieler betrachten. Bei mir haben sie etwas entdeckt, das ich nicht in mir vermutet hatte.


Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch bei „Silence des Justes“?

Ich war ziemlich fassungslos. Aber auch sehr bestürzt - zu meiner Überraschung musste ich sogar heulen. Ich fragte mich: „Wie werde ich mit diesen Kids arbeiten, mit diesen Jugendlichen und Erwachsenen? Wie werde ich angesichts dieser schweren Fälle von Autismus meinen persönlichen Abstand wahren können?“ Ich beobachtete Stéphane und die Pfleger und mir wurde klar, dass sie ihr Leben der Aufgabe weihten, die Lebensumstände dieser Kinder und Jugendlichen zu verbessern - und zwar ohne Sentimentalität und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Die Autisten leiden an der Unfähigkeit, zu kommunizieren. Aber wenn man ihnen Anregungen bietet, kann man ihre Sensomotorik steigern. Anders gesagt: Ein Typ, der 20 Jahre seines Lebens in dieser karitativen öffentlichen Einrichtung zugebracht hat, schaut anders aus als einer, der gerade erst dort angekommen ist.


Wie haben Sie die Ängste abgeschüttelt, von denen Sie gerade sprachen?

Ich habe viel Zeit mit den jungen Menschen verbracht und vor allem habe ich mit dem Geheule aufgehört. Ich habe mir immer wieder gesagt, dass man keine Angst haben muss, durchs Feuer zu gehen und zwei oder drei Ohrfeigen abzukriegen. Eines Tages gab ich ein Interview für Papotin – eine Zeitung, die von jugendlichen und erwachsenen Autisten gemacht wird. Diese Erfahrung hat etwas in mir in Bewegung gesetzt.


Inwiefern?

Sie laden Persönlichkeiten wie Fußballer, Musiker, Schauspieler oder Politiker in ein Zelt ein, um sich dort von jungen Leuten interviewen zu lassen. Manche Kinder hängen sich so sehr an Details auf, dass ihnen keiner mehr folgen kann. Andere kommen daher und deklamieren ein lautmalerisches Gedicht. Das ist eine abstrakte, lustige und poetische Erfahrung, die ganz selbstverständlich hübsche Blüten treibt. Da gibt es keinen falschen Schein, hinter dem man sich als Schauspieler verstecken kann.


Sie hatten ein Vorbild für ihre Rolle als Bruno: Stéphane Benhamou ...

Bruno, meine Figur, ist einerseits wie Stéphane und andererseits gar nicht. Natürlich habe ich mich mit ihm getroffen und ihn beobachtet. Stéphane bewegt seinen Körper auf eine Weise, die sehr viel über ihn aussagt. Er steht bei seiner Arbeit immer sehr unter Druck. Ist es Altruismus? Menschlichkeit? Die Gründe, warum er das tut, was er tut, sind im Prinzip sehr einfach.


Sie sprechen von seinem Körper: Was haben Sie sich genau bei ihm abgeschaut?

Seinen Blick – er vermeidet es oft, Menschen anzusehen, damit es ihnen nicht unangenehm ist. Und auch seine unruhige Art. Ich bin von dem ausgegangen, was ich von der Einsamkeit eines Mannes wahrgenommen habe, der ohne Frau und Kinder lebt und der seine Erfüllung darin findet, seine Liebe den Autisten zu schenken, mit denen er arbeitet.


Als praktizierender Jude arbeitet er mit Malik, einem Moslem, zusammen.

Von Anfang an haben wir uns die Frage gestellt: „Was machen wir mit der Religion?“ Im Film kommt sie genau in dem Maße vor, wie sie in diesen Organisationen eine Rolle spielt – nämlich keine bedeutende.


Kannten Sie Reda Kateb?

Ich fühlte mich spontan verwandt mit ihm. Ich mag seinen Charme, seine Aufmachung à la Benicio del Toro oder Javier Bardem. Er ist ein echtes Kaliber. Ein Straßendandy, der durch und durch Stil hat. Das Zusammentreffen mit ihm verlief so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich fand auch das komische Talent und die Großzügigkeit von Alban Ivanov toll. Er strahlt so eine Selbstverständlichkeit aus. Wenn er etwa zu spät zum Set kommt, weil er den Ruf „Action“ nicht gehört hat, müsste man ihn fast dabei filmen.


Sie haben viele Szenen mit Benjamin Lesieur (Joseph). Wie sind Sie die angegangen?

War es Spiel? Nicht-Spiel? Wir haben gespielt, aber ich kann nicht genau sagen, was. Ich war beruhigt, als ich merkte, dass es ihm Spaß machte. Es gefiel ihm, seinen eigenen Rhythmus zu finden. Er war wie elektrisiert, dass er mit uns an diesen Orten sein durfte. An seinem Platz. Glücklich. Ja, in dem Sinn war er ein Schauspieler mit seinen ganz besonderen Eigenheiten.


Die Szene, in der er tanzt, ist wahnsinnig poetisch ...

Manche tanzten, manche spielten Klavier, andere jammten – man verstand nicht immer alles, aber wie schön ist das! Es gab auch Kinder, die einfach gar nichts auf der Bühne machten.


Der Film stellt eine grundsätzliche Frage: Muss man gegen die Norm arbeiten?

Kann man es sich überhaupt erlauben, etwas anderes zu tun, als gegen die Norm zu arbeiten? Stéphane Benhamou gibt alles, um in unserem System Lösungen für seine Schützlinge zu finden. Er verlässt die Legalität. Und inspiriert damit auch Regisseure, die Bewegung in eine derzeit stagnierende Situation bringen könnten. ALLES AUSSER GEWÖHNLICH ist kein Film über Autisten, sondern über das eigene Engagement und über Menschen, die sich um andere kümmern.


Die jugendlichen Betreuer, mit denen Sie zusammenarbeiten, vermitteln den Eindruck einer Generation, die sich engagieren möchte für andere.

Sie haben einen Sinn für ihr Leben gefunden. Éric und Olivier erzählen nicht vom Unglück der Banlieue: Sie zeigen eine Truppe von 19-, 20-jährigen Superhelden, die eine Arbeit leisten, zu der viele von uns nicht in der Lage wären.

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Info:
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH (Hors normes)
von Éric Toledano & Oliver Nakache, F 2019, 113 Min.
Drama / Start: 05.12.2019

Besetzung
Bruno              Vincent Cassel
Malik               Reda Kateb
Hélène, Mutter von Joseph         Hélène Vincent
Dylan, Betreuer von Valentin       Bryan Mialoundama
Menahem, jüdischer Restaurantbesitzer      Alban Ivanov
Joseph                          Benjamin Lesieur
Valentin                         Marco Locatelli
Dr. Ronssin, Ärztin        Catherine Mouchet
Kontrollbeamter der IGAS       Frédéric Pierrot
Kontrollbeamte der IGAS        Suliane Brahim de la Comédie française
Ludivine, Krankenschwester           Lyna Khoudri
Shirel, Betreuerin                             Aloïse Sauvage