Redaktion
Paris (Weltexpresso) - „Weder Vincent Cassel, noch Reda Kateb haben jemals Starallüren entwickelt." Wann und wie haben Sie Ihre beiden Vereine „Le Silence des Justes“ und „Le Relais IDF“ gegründet?
Stéphane Benhamou: Ich wurde erstmals 1992 mit dem Thema Autismus konfrontiert, als ich in einer Ferienkolonie, deren Leiter ich war, einen Jungen mit diesem Krankheitsbild vor mir hatte. Vier Jahre später gründete ich „Le Silence des Justes“. Autismus wurde im April 1995 behördlicherseits als Problem im Gesundheitswesen anerkannt, aber es fehlten die Strukturen, um sich um die Betroffenen zu kümmern. Man hinkte also beträchtlich hinterher und tut es bis heute. Zunächst haben wir also eine allgemeine Organisation eingerichtet, später spezialisierten wir uns dann immer weiter. 2007 erhielten wir die erste Genehmigung für unsere Arbeit. Im Jahre 2010 dann der Durchbruch, als der zuständige Verwaltungsbeamte uns den ersten Autisten anvertraute. Damals wurde die erste medizinische Notfallstation ins Leben gerufen, die rund um die Uhr geöffnet ist. Heute leben 59 Autistinnen und Autisten in unseren Wohnungen.
Daoud Tatou: „Le Relais IDF“ wurde 2000 gegründet. Der Verein kümmerte sich zunächst an den Wochenenden um die schwierigen Fälle – irgendwann haben Stéphane und ich unser Angebot auf die ganze Woche ausgedehnt. Seit 1996 arbeite ich nun schon mit ihm zusammen. Damals bin ich im Theater Le Lucernaire in Paris auf ihn gestoßen, wo ich Workshops mit Autisten veranstalte. Ich war Animateur und Erzieher und arbeitete mit Howard Buten zusammen, einem amerikanischen Psychologen, Autismusspezialisten und Clown. Sehr schnell haben Stéphane und ich damit begonnen, unsere Erfahrungen mit sehr schwierigen Fällen von Autismus in Stéphanes Ferienzentrum einzubringen. Weil ich aus einem sozialen Brennpunkt kam, hatte ich die Idee, die jungen Leute aus eben diesen Vierteln den Menschen zur Seite zu stellen, die von der Krankheit betroffen sind.
Wann sind sie zum ersten Mal auf das Phänomen Autismus aufmerksam geworden?
S.B.: Der erste Autist, dem ich begegnete, war ein Teenager, der nicht kommunizieren konnte. Ich wollte verstehen, warum das so war und ließ ihn in mein Ferienlager kommen. Am Ende bat er mich, dort wieder vorbeischauen zu dürfen.
D.T.: Ich war 17, als ich über das Phänomen Autismus „gestolpert“ bin. Jetzt bin ich 45. Ich verstand die Gewalttätigkeit der Autisten nicht. Wie kommt es, dass sie plötzlich widerspenstig werden und ohne Vorwarnung alles kurz und klein schlagen? Ich suche immer noch nach Antworten.
Wenn ich Sie recht verstehe, ist alles in ihren Organisationen nach und nach gewachsen. D.T.: Anfangs entwickelten wir uns ohne feste Strukturen weiter. Dann stellte ich „Le Relais IDF“ auf die Beine, mit einer Versicherung, Satzungen und so weiter. Und ich begann, Ausbildungen anzubieten, um in gewisser Weise die jungen Leute, die uns so tatkräftig unterstützten, zu belohnen.
S.B.: Die Autisten haben aus uns gemacht, was wir sind. Wir haben die Löcher gestopft, haben die Lücken im System aufgefüllt, um die Unzulänglichkeiten der Politik auszugleichen, die zu wenig Mittel zur Verfügung stellt.
In welchem Maß haben sich ihre Sozialisierungsmaßnahmen als nützlich erwiesen?
S.B.: Wir konnten feststellen, dass sich die Situation von 80% der Kinder und Jugendlichen, die wir in Obhut nehmen, aufgrund ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft verbessern.
D.T.: Das erste, woran man die Veränderung dieser jungen Leute erkennt, ist ihr gesteigertes Empathie-Vermögen: Da liegt die Erfolgsquote bei 80%. Die nächste Stufe ist der Unterricht: Man muss den Leuten erklären, dass diese Menschen genauso das Recht haben, unter anderen Leuten zu sein, wie jedermann. Weggeschlossen zu leben, heißt gar nicht leben.
S.B.: Der gemeinsame Nenner, der alle Autisten eint, ist die Unfähigkeit, zu kommunizieren. Wenn man sie nicht unterstützt und begleitet, sind sie vollkommen von unserer Welt abgeschnitten.
Wann haben Éric Toledano und Olivier Nakache angefangen, sich für Ihre Sache zu engagieren?
S.B.: Vor zwanzig Jahren, als sie einen Imagefilm über „Le Silence des Justes“ gedreht haben. Seither ist der Kontakt zu unserem Verein nie abgebrochen. Sogar nach dem riesigen Erfolg von ZIEMLICH BESTE FREUNDE haben sie uns die Treue gehalten und uns in allen Situationen geholfen, die wir durchzustehen hatten. Éric und Olivier machen die Arbeit mit den Autisten endlich sichtbar. Aber 37.000 Familien leben noch immer den täglichen Albtraum, der sie in absolute Finsternis stürzt, rund um die Uhr. Für sie gibt es keine Familienleben mehr und keine sozialen Bindungen. Man überlässt sie ihrer Angst und akzeptiert die Tatsache, dass sie ausgeschlossen werden.
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH lenkt den Blick auch stark auf die Betreuer der Kinder...
D.T.: Wir hatten Glück und konnten ein Team aus Pflegern zusammenstellen, das aus Leuten aus dem Viertel besteht, in dem wir unsere Arbeit aufgenommen haben. Unser Anliegen war, ein Modell zu etablieren, das auf Dauer bestand hat.
Wie war die Zusammenarbeit mit Vincent Cassel und Reda Kateb?
S.B.: Schon beim ersten Treffen merkte ich, wie groß Vincents Interesse war. Er stellte einen Haufen Fragen. Und er ging offen auf die Kinder zu. Ich hatte nicht das Gefühl, es mit einem Schauspieler zu tun zu haben. Er war sofort ganz und gar bei der Sache. Aber ich habe meine Arbeit nicht an seinen Zeitplan angepasst. Er hat sich nach mir gerichtet.
D.T.: Mit Reda war das genauso. Er ist sehr menschlich und zugleich sehr einfühlsam. Weder Vincent, noch Reda haben jemals Starallüren entwickelt.
Was erwarten Sie sich von dem Film?
S.B.: Dass er ein Bewusstsein für den Autismus schafft, auch wenn jetzt ohnehin Bewegung in die Sache kommt und die Verwaltung langsam aufwacht.
D.T.: Ich hoffe, dass der Film die Politiker erreicht. Wir hätten gern, dass er alle Entscheider wachrüttelt - sogar den Staatspräsidenten.
Foto:
©
Info:
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH (Hors normes)
von Éric Toledano & Oliver Nakache, F 2019, 113 Min.
Drama / Start: 05.12.2019
Besetzung
Bruno Vincent Cassel
Malik Reda Kateb
Hélène, Mutter von Joseph Hélène Vincent
Dylan, Betreuer von Valentin Bryan Mialoundama
Menahem, jüdischer Restaurantbesitzer Alban Ivanov
Joseph Benjamin Lesieur
Valentin Marco Locatelli
Dr. Ronssin, Ärztin Catherine Mouchet
Kontrollbeamter der IGAS Frédéric Pierrot
Kontrollbeamte der IGAS Suliane Brahim de la Comédie française
Ludivine, Krankenschwester Lyna Khoudri
Shirel, Betreuerin Aloïse Sauvage
Wann sind sie zum ersten Mal auf das Phänomen Autismus aufmerksam geworden?
S.B.: Der erste Autist, dem ich begegnete, war ein Teenager, der nicht kommunizieren konnte. Ich wollte verstehen, warum das so war und ließ ihn in mein Ferienlager kommen. Am Ende bat er mich, dort wieder vorbeischauen zu dürfen.
D.T.: Ich war 17, als ich über das Phänomen Autismus „gestolpert“ bin. Jetzt bin ich 45. Ich verstand die Gewalttätigkeit der Autisten nicht. Wie kommt es, dass sie plötzlich widerspenstig werden und ohne Vorwarnung alles kurz und klein schlagen? Ich suche immer noch nach Antworten.
Wenn ich Sie recht verstehe, ist alles in ihren Organisationen nach und nach gewachsen. D.T.: Anfangs entwickelten wir uns ohne feste Strukturen weiter. Dann stellte ich „Le Relais IDF“ auf die Beine, mit einer Versicherung, Satzungen und so weiter. Und ich begann, Ausbildungen anzubieten, um in gewisser Weise die jungen Leute, die uns so tatkräftig unterstützten, zu belohnen.
S.B.: Die Autisten haben aus uns gemacht, was wir sind. Wir haben die Löcher gestopft, haben die Lücken im System aufgefüllt, um die Unzulänglichkeiten der Politik auszugleichen, die zu wenig Mittel zur Verfügung stellt.
In welchem Maß haben sich ihre Sozialisierungsmaßnahmen als nützlich erwiesen?
S.B.: Wir konnten feststellen, dass sich die Situation von 80% der Kinder und Jugendlichen, die wir in Obhut nehmen, aufgrund ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft verbessern.
D.T.: Das erste, woran man die Veränderung dieser jungen Leute erkennt, ist ihr gesteigertes Empathie-Vermögen: Da liegt die Erfolgsquote bei 80%. Die nächste Stufe ist der Unterricht: Man muss den Leuten erklären, dass diese Menschen genauso das Recht haben, unter anderen Leuten zu sein, wie jedermann. Weggeschlossen zu leben, heißt gar nicht leben.
S.B.: Der gemeinsame Nenner, der alle Autisten eint, ist die Unfähigkeit, zu kommunizieren. Wenn man sie nicht unterstützt und begleitet, sind sie vollkommen von unserer Welt abgeschnitten.
Wann haben Éric Toledano und Olivier Nakache angefangen, sich für Ihre Sache zu engagieren?
S.B.: Vor zwanzig Jahren, als sie einen Imagefilm über „Le Silence des Justes“ gedreht haben. Seither ist der Kontakt zu unserem Verein nie abgebrochen. Sogar nach dem riesigen Erfolg von ZIEMLICH BESTE FREUNDE haben sie uns die Treue gehalten und uns in allen Situationen geholfen, die wir durchzustehen hatten. Éric und Olivier machen die Arbeit mit den Autisten endlich sichtbar. Aber 37.000 Familien leben noch immer den täglichen Albtraum, der sie in absolute Finsternis stürzt, rund um die Uhr. Für sie gibt es keine Familienleben mehr und keine sozialen Bindungen. Man überlässt sie ihrer Angst und akzeptiert die Tatsache, dass sie ausgeschlossen werden.
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH lenkt den Blick auch stark auf die Betreuer der Kinder...
D.T.: Wir hatten Glück und konnten ein Team aus Pflegern zusammenstellen, das aus Leuten aus dem Viertel besteht, in dem wir unsere Arbeit aufgenommen haben. Unser Anliegen war, ein Modell zu etablieren, das auf Dauer bestand hat.
Wie war die Zusammenarbeit mit Vincent Cassel und Reda Kateb?
S.B.: Schon beim ersten Treffen merkte ich, wie groß Vincents Interesse war. Er stellte einen Haufen Fragen. Und er ging offen auf die Kinder zu. Ich hatte nicht das Gefühl, es mit einem Schauspieler zu tun zu haben. Er war sofort ganz und gar bei der Sache. Aber ich habe meine Arbeit nicht an seinen Zeitplan angepasst. Er hat sich nach mir gerichtet.
D.T.: Mit Reda war das genauso. Er ist sehr menschlich und zugleich sehr einfühlsam. Weder Vincent, noch Reda haben jemals Starallüren entwickelt.
Was erwarten Sie sich von dem Film?
S.B.: Dass er ein Bewusstsein für den Autismus schafft, auch wenn jetzt ohnehin Bewegung in die Sache kommt und die Verwaltung langsam aufwacht.
D.T.: Ich hoffe, dass der Film die Politiker erreicht. Wir hätten gern, dass er alle Entscheider wachrüttelt - sogar den Staatspräsidenten.
Foto:
©
Info:
ALLES AUSSER GEWÖHNLICH (Hors normes)
von Éric Toledano & Oliver Nakache, F 2019, 113 Min.
Drama / Start: 05.12.2019
Besetzung
Bruno Vincent Cassel
Malik Reda Kateb
Hélène, Mutter von Joseph Hélène Vincent
Dylan, Betreuer von Valentin Bryan Mialoundama
Menahem, jüdischer Restaurantbesitzer Alban Ivanov
Joseph Benjamin Lesieur
Valentin Marco Locatelli
Dr. Ronssin, Ärztin Catherine Mouchet
Kontrollbeamter der IGAS Frédéric Pierrot
Kontrollbeamte der IGAS Suliane Brahim de la Comédie française
Ludivine, Krankenschwester Lyna Khoudri
Shirel, Betreuerin Aloïse Sauvage