70. Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, WETTBEWERB, Teil 9/18
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – „MÄNNER,“, sagte nach der Filmvorführung sehr laut eine Frau weit vorne. Und alle, aber auch alle darumherumsitzenden Frauen fuhren fort: „Genau“, oder „Ja“ oder „Noch dazu ein alter Mann“, weitere „Ein alter weißer Mann“.
Wissen Sie jetzt, um was es geht? Um die Qual, in der westlichen degenerierten Welt ein Mann zu sein, aber gleichzeitig von dem Mannsein besessen zu sein, was sich ausdrückt in einer Weisheit, die schon Goethe formulierte:
„Welch Glück sondergleichen,
Ein Mannsbild zu sein!“(Egmont),
der aber auch im Faust, der Tragödie zweiter Teil betont:
„Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.“
Dieser ältere Clint hat sich in die Kälte und Einsamkeit zurückgezogen, ins ewige Eis, wo er für Gäste ein Mittelding zwischen Bar und Feuerstelle offen hält, in die schon der Lage wegen kaum einer kommt. Und wenn, dann mit Schlitten und Huskies, von denen er auch einige besitzt, mit denen er unterwegs durch den Schnee fährt, ohne Ziel, als im Abgrund die Gefahr besonders zu spüren. Ob seine Besucher real sind oder als Chiffren aus der Vergangenheit auftauchen, können wir nicht entscheiden, auf jeden Fall wird klar, daß er auch nach dem Rückzug aus dem tätigen Leben seine Dämonen mitgenommen hatte, die ihn nun hier quälen. Der arme Mann. Vor allem die Frauen! Die eigene Exfrau und die junge Russin. Die erregen ihn, vor allem als Schwangere betet er sie an, einigermaßen merkwürdige Szenen, die ich geschmacklos fand, aber jedem Tierchen sein Pläsierchen.
Ich muß dazu sagen, daß auch mir Willem Dafoe ein Lieblingsschauspieler ist. Aber wie sehr habe ich einen seiner Filme von Theo Angelopolous mit ihm in der Hauptrolle imaginiert, während ich den Anstrengungen des Clint zusehen mußte, sein Leben zu vergegenwärtigen und fiktiv anders handeln zu können und auch sich selber besser zu verstehen.
Wieso kommt einem das so absolut wie von gestern vor, wo sich Willem Dafoe doch solche Mühe gibt und die Landschaft, Eis Schnee, Berge, Schluchten in einem Film, der mit dem Titel SIBERIA schon alles sagt, doch existentielle Not andeutet. Eben. Das ist alles so offensichtlich, so gewollt, so erzwungen, daß man längst innerlich abgewinkt hat. Solche Männer bewohnen immer noch die Leinwände und beteiligen uns auf der Suche nach sich selbst.
Wir erwarten im Jahr 2020 andere Personen im Kino, andere Geschichten, mehr Frauen, nicht nur als Opfer von Männern, übrigens auch andere Männer.
Und dann die Pressekonferenz! Das sei der beste Film des Wettbewerbs. Sagen Männer. Und die Frage, warum der Film Siberia, also Sibirien heiße?
Da sei es sehr kalt und es es sei weit weg, antwortete der Regisseur, aber man solle doch seine russische junge Darstellerin auf dem Podium neben ihm fragen. Die erwiderte, ja, kalt sei Sibirien, aber es stünde für nichts Weiteres. Da wurde es einem dann doch eiskalt ums Herz. Was ist eigentlich los auf der Welt, daß ein weltbekannter Regisseur und eine junge Russin mit Sibirien nicht die Katorgalager des Zarenreiches, die schwerste Strafe nach der Todesstrafe, und nicht die Gulag-Lager, die Arbeits- und Umerziehungslager Stalins im Sowjetkommunismus verstehen, wo Millionen von Russen und anderen Inhaftierten umkamen.
Von daher ist allein die Betitelung mit SIBERIA für einen individuellen Psychofall, wo ein Mann mit sich und seinem Leben nicht klar kommt und in der Einsamkeit nach einem inneren Kern, nach sich selber, seiner Identität sucht, eine gesellschaftspolitische Torheit, den in den sibirischen Arbeitslagern Umgekommenen gegenüber zudem eine Unverschämtheit.
Noch nicht einmal ein Bezug zu Schostakowitsch wird hergestellt, dessen Oper Lady Macbeth von Mzensk bei der Uraufführung Stalin zum Opernrezensenten machte. Ablehnend natürlich. Literarische Vorlage ist die gleichnamige Novelle von Nikolai S. Leskow aus dem Jahr 1864, drei Jahre nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland, wo das sündige Paar ins Straflager nach Sibirien geschickt wird, weil Sibirien das Zuchthaus für das Zarenreich wie für die UdSSR war. Das wären Filme!
Foto:
© Verleih
Info:
Regie: Abel Ferrara
Hauptrolle Clint: Willem Dafoe