www.1.wdr.deSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Oktober 2020, Teil 2

Oskar Roehler

Berlin (Weltexpresso) -  Wenn sich jemand über die biederen Grenzen des deutschen Erzählkinos hinweggesetzt hat, dann Fassbinder. Das lässt ihn einzigartig scharf und schillernd dastehen. Mir ging es wie Klaus Richter: den ersten Film, den ich sah, ich war damals 12 und es gab ein „Heimkino“ im Internat, in das etwa 20 Leute passten, war „Händler der vier Jahreszeiten“. Dieser Film hat sich wie ein Geschoss in das Herz des Zwölfjährigen gebohrt. Fortan saß und wartete er, wann der nächste Fassbinder käme.

Und er kam bald. Nahezu im Halbjahresrhythmus kamen neue, kleine, teils bizarre, teils tiefenscharfe Filme heraus, die ihren Zerrspiegel auf die Gesellschaft richteten, die kleinbürgerliche, erzreaktionäre, deutsche der frühen Siebzigerjahre, die der 12-, 13-, 14-Jährige dann mitnehmen konnte, tief beeindruckt von der Wirkung, die sie in ihm hinterlassen hatten. Es war eine deutsche Wirklichkeit, die er bisher nicht kannte und über die er bisher nicht nachgedacht hatte. Fassbinders Filme gaben ihm das Werkzeug und die Mittel anheim, dies zu tun. Was zur Folge hatte, dass er selbst früh mit seinen ersten Versuchen zu schreiben anfing. Diese Filme waren ein großer Segen innerhalb der Filmwüste Deutschlands. Und als der 19-Jährige dann nach Berlin ging, auf den Spuren der Einstürzenden Neubauten und eben jenes legendären Fassbinders, der damals immer noch fast ein Berufsjugendlicher war, er war Mitte dreißig, da suchte er schon bald die Orte auf, in der er in der Nähe seines Idols und dessen Stars sein konnte, Ingrid Caven, Kurt Raab, Volker Spengler und wie sie alle hießen, die sich schwer betrunken in der Paris-Bar und im Bermuda-Dreieck rund um den Savignyplatz herumtrieben und dort ihre ausschweifenden Partys feierten, und „drückte seine Nase an die Scheiben“, weil er sich anfangs erst nicht hinein traute. Später lernte er einige von ihnen kennen und hatte selbst die Ehre mit ihnen zu drehen.

Was Fassbinder und seine Truppe so berühmt und berüchtigt machte, war die Tatsache, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, mit ihrem giftigen Cocktail unterschiedlichster Filme die kulturelle Landschaft total aufzumischen und ihnen schon der internationale Ruhm dämmerte. Es war eine schwule Truppe von Hasardeuren, Mimen und Teilzeitschauspielern, die dies erreichten, ein bunter Haufen, der überall her kam, aus der tiefsten bayrischen Provinz bis hoch zu den Altstars der UFA. Der Zampano von ihnen, der junge Fassbinder, der sich zum Schluss nur noch mit Spiegelglassonnenbrille und ganz in Leder zeigte und keine Miene mehr verzog, immer zwei Bodyguards, ebenfalls ganz in Leder, um ihn herum, war zu der Zeit der einzige Rockstar im deutschen Kino und ist es bis jetzt geblieben. Er durfte Hotelzimmer in Cannes verwüsten, Stars ernennen und andere fallen lassen und durfte am Ende auch sein eigenes Leben zerstören, während die anderen ihm dabei zusahen. Er brachte die Exzentrik und das Freiheitsgefühl der schwulen Avantgarde ins deutsche Kino und in den deutschen Kulturbetrieb, indem er auch bei den vielen Filmen, die mit dieser Thematik nichts zu tun hatten, die Form versinnlichte, ästhetisierte und gleichzeitig aktualisierte. Die Themen waren immer neu und aus der Gegenwart bei den richtig guten Filmen. Einzigartig war sein Melodram „In einem Jahr mit dreizehn Monden“, das mit poetischen und theatralischen Mitteln spielte und sie in die Höhe trieb. Fassbinder kam ursprünglich vom Theater, und das merkte man. Er erzählte, ähnlich streng wie Brecht, gesellschaftliche Parabeln. Mutter Küster ist nur ein Beispiel dafür.

Fassbinder hatte eben jenen Rock and Roll im Blut, den man nicht kaufen kann. Er machte sie alle berühmt. Und Ruhm, das war auch wichtig. Sich von den Außenseiterpositionen her durch Genialität Ruhm zu erobern und in die Schlüsselposition der internationalen cineastischen Aufmerksamkeit zu kommen. Andy Warhol, Jane Fonda, Dirk Bogarde. Er schielte immer weiter nach Höherem, dabei wurden seine Filme immer hermetischer und verrückter, und er selbst immer kaputter. Er hatte so viel abzuarbeiten an sich, an der deutschen Gesellschaft, dass ein Leben, so stark auch immer, einfach nicht ausreichen konnte. Der große Zirkus, das Rampenlicht, die Drogen, die Legenden, die er schuf, haben ihn schließlich verschlungen.

Für mich war er ein Komet am nachtschwarzen Berliner Himmel, eine grelle Neonreklame, die im Wind flatterte, ein Monolith, der bunte Farben erfand, um sich in Szene zu setzen, der aber eigentlich aus dem kalten, grauen Urgestein der deutschen Nachkriegsgesellschaft gemacht war. Mit all den düsteren Gedanken, dem Pessimismus, den Selbstzweifeln, die dazu gehörten. Jeder kaputte Held seiner Geschichten, der an sich selbst zugrunde ging, war ein Teil von ihm selbst. Und mit jedem von ihnen starb er selbst ein Stück. Am Ende ist er zu Kreuze gekrochen, wie richtige Rock and Roller dies tun, ausgebrannt und sein Leben in Scherben und ungeheuer einsam. Er hat Freundschaften im Feuerofen seiner Produktivität verbrennen lassen und ist weitergezogen. „Leichen pflasterten“ seinen Weg. 39 Filme haben wir ihm zu verdanken. Es war alles dabei: vom atemberaubenden Melodram über herrliche böse schwarze Komödien bis hin zu den großen Gesellschaftsdramen. Jeder Film war anders, fast jeder Film eine Überraschung. Unfehlbar war er nicht. Perfekte Filme zu machen war nicht sein Anspruch. Dazu war er zu impulsiv, letztlich zu emotional. Er musste Leben vorlegen, um diese lebensnahen Filme zu machen. Das war die Krux. Er hatte keinen Rückzugsort, wohin er sich hätte verkriechen können, wie die anderen. Kunst und Leben waren vollkommen ineinander verflochten.

Er war ein sehr junger Mann mit einer großen Weisheit und einer ebenso großen Komik. Er war der Einzigartige, der Prägende unter den deutschen Filmregisseuren und Autoren. Alles für die Kunst und leben, als gäbe es kein Morgen. Nach dieser Devise leben heißt, nicht alt zu werden. Fassbinder blieb es erspart, als Veteran vor sich hinzudümpeln, sich nur noch zu wiederholen und langweiliges Zeug zu machen. Er starb auf dem Höhepunkt seines schöpferischen Ruhms, im Alter von 37 Jahren.


RAINER WERNER FASSBINDER

FILM AUSWAHL 

1982 QUERELLE – EIN PAKT MIT DEM TEUFEL 
1982 DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS 
1981 LOLA 
1980 BERLIN ALEXANDERPLATZ 
1980 LILI MARLEEN 
1978 IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN 
1978 DIE EHE DER MARIA BRAUN
1976 SATANSBRATEN THEATER AUSWAHL
1974 FONTANE EFFI BRIEST
1974 MARTHA 
1973 ANGST ESSEN SEELE AUF 
1973 WELT AM DRAHT 
1971 HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN 
1970 WHITY 
1969 LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD 


FILM AUSWAHL (SCHAUSPIELER)

1982 KAMIKAZE 1989 von Wolf Gremm
1973 ANGST ESSEN SEELE AUF von Rainer Werner Fassbinder
1974 FAUSTRECHT DER FREIHEIT von Rainer Werner Fassbinder
1970 MATHIAS KNEIßL von Reinhard Hauff
1970 BAAL von Volker Schlöndorff
1967 TONYS FREUNDE Von Paul Vasil


THEATER AUSWAHL

1975 DER MÜLL, DIE STADT UND DER TOD
1971 BREMER FREIHEIT
1970 DAS BRENNENDE DORF
1969 DAS KAFFEEHAUS
1966 TROPFEN AUF HEIßE STEINE
1965 NUR EINE SCHEIBE BROT

Foto:
© Presseportal Tele 5

Info:
„Enfant Terrible“, Deutschland 2020, 134 Minuten, FSK ab 16 Jahren, Filmstart 1.10.2020 Regie Oskar Roehler mit Oliver Masucci, Katja Riemann, Eva Mattes, Désirée Nick u.a.
Abdruck aus dem Presseheft