selten1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 1. Oktober 2020, Teil 8

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Am 26. Februar veröffentlichte WELTEXPRESSO eine Filmkritik zu NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS – NIE SELTEN MANCHMAL IMMER als Beitrag zur BERLINALE Berichterstattung 12/18., die den Film außerordentlich lobte.  Den Film konnte ich ein zweites Mal in einer Pressevorführung sehen und das zweite Mal ist sozusagen der Ritterschlag für einen Film - oder eine Enttäuschung. Hier war es der Ritterschlag, denn wenn man bei einem solchen Thema - keinem Krimi! - sich den Film noch einmal anschaut, zählt das schon, wenn man aber dann sich noch stärker berührt fühlt, die so unaufgeregten, aber subtilen filmischen Mittel erkennt und die Personenführung bewundert, dann handelt es sich wirklich um einen sehr guten Film.


Nicht umsonst hat NIE SELTEN MANCHMAL IMMER auf der diesjährigen Berlinale mit dem Großen Preis der Jury den Silbernen Bären gewonnen. Ein bärenstarker Film. Wir drucken die Besprechung vom Frühjahr hier noch einmal ab:


Die 17jährige Autumn (Sidney Flanigan) spielt als Dritte vor einem jugendlichen Publikum auf der Gitarre und singt dazu. Zuvor gab es drei Schmalzheinis und wiederum davor eine echte Rock 'n Roll Band. Gegröle und Geklatsche und dann ertönt bei ihren Auftritt ein lautes „Schlampe“ von einem jungen Kerl. Sie zuckt zusammen und schüttet ihm beim Herausgehen kühl und gezielt ein Glas Wasser ins Gesicht.

Mit unserem Einverständnis. Mindestens das. Nicht zu verstehen, warum die Umstehenden den jungen Mann nicht angingen und auch Autumns Eltern waren da. Sie kommen aus kleinen Verhältnissen, aber das war nicht der Grund, nicht einzuschreiten, sondern, was wir den ganzen Film über erleben, sind kleine und größere Übergriffe von jungen, mittelalten und alten Männern den Frauen und Mädchen gegenüber, die wohl als selbstverständlich angesehen werden. Zählt man diese am Schluß zusammen, dann sieht man auch in Zahlen, wie der Alltag von Frauen, von jungen Frauen noch stärker, von unaufhörlichem Angemache bestimmt ist, was die betreffenden Männer dann auch oft noch ‚nett‘ meinen oder sogar als Auszeichnung ansehen. Erst wenn eine Frau von Männern ständig auf ihr Frausein angesprochen, angeschaut, betatscht wird, ist sie eine richtige Frau in Männeraugen.

Das ist nicht meine persönliche Aussage, sondern die des Films, die ich dann aber wieder teile. Von daher würden die Kleinigkeiten schon reichen, um auf etwas aufmerksam zu machen, was privat und öffentlich geändert werden muß im Verhalten der Geschlechter.

Aber dieser Film erzählt ja eine zugespitzte Geschichte und mitten im Film fühlen wir uns wie in einer Dokumentation. Das liegt auch daran, daß Autumn, die von ihrer Cousine Skylar (Sidney Flanigan) hingebungsvoll unterstützt wird, schwanger ist und von ihrer Vermutung, über den Test, über das Aufsuchen einer Frauenärztin die Zuschauer den Weg des jungen Mädchens mitverfolgen, das genau weiß, daß sie für ein Kind zu jung ist. Vom potentiellen Vater erfahren wir eh nichts. Dazu noch mehr.

Völlig unverständlich, aber Tatsache ist, daß die Eltern von ihr völlig herausgehalten werden und auch selbst nichts merken. Autumn lebt mit ihnen im ländlichen Pennsylvanien, wo für einen Schwangerschaftsabbruch deren Einverständnis nötig ist. In New York nicht, weshalb die beiden Mädchen dorthin aufbrechen. Zum einen erleben wir,  wie die beiden in New York zurecht kommen, denn die Klinik arbeitet sehr sorgfältig und so sind zwei Übernachtungen nötig, die die beiden mangels Geld in öffentlichen Einrichtungen verbringen.

Das alles ist sehr interessant, aber das Eigentliche sind die Gespräche in der Klinik, die Männer sowieso nicht kennen können, aber auch die Frauen nicht, die keinen Schwangerschaftsabbruch erlebten. Sehr einfühlsam wird an allen Stellen das weibliche Personal dargestellt, das Autumn bei ihrer Entscheidung begleitet und sehr intensiv nach deren eigener Meinung fragt. Denn die Freiwilligkeit ist die entscheidende Voraussetzung für ihr medizinisches Handeln .

Aber dann führt der letzte Fragebogen zu dem Moment, wo nur noch reine Emotion Autumn das Antworten unmöglich macht, was sich auf den Zuschauer überträgt. Sie soll beantworten, ob ihre sexuellen Kontakte mit Männern freiwillig geschahen, ob es Übergriffe und ob es Vergewaltigungen gab. Nie kann sie mit NEVER antworten, daß es zu Vergewaltigungen kam, nickt sie auch noch ab. Das ist eine so trostlose Situation, wenn ein 17jähriges Mädchen schon mit solchen Erfahrungen ins Leben startet.

Drei Sachverhalte noch:

In New York ist der Schwangerschaftsabbruch zumindest möglich, wird aber von Klerikalen vor der Klinik zum Spießrutenlaufen für die Betroffenen, was der Film zeigt. Der Film ist auch ein Argument für eine frauenfreundliche selbstbestimmte Gesetzgebung. Daß die US-Kinos den Film schon in ihr Programm aufgenommen haben, spricht für eine offene Diskussion, die vielleicht in den USA nun doch aufkommen kann, nachdem mit Weinstein und Metoo eine Seite der Medaille aufgeschlagen ist.

Welcher Mann für die Schwangerschaft verantwortlich ist, erschließt sich nicht, will von der Regisseurin Eliza Hittman auch gar nicht zum Thema gemacht werden. Für mich war dies der junge Mann, der sie Schlampe nennt, schon deshalb, weil ein anderer gar nicht auftaucht. Aber für einige hat die Kombination, daß auch der Vater von Autumn am Abend im Familienkreis das Wort Schlampe aufgreift, auf den Hund anwendet, auf jeden Fall negativ zur Tochter steht, zusammen mit der stattgefundenen Vergewaltigung diesen zum Täter gemacht. Die Regisseurin hält sich bei der personellen Zuschreibung des Erzeugers völlig heraus. Ihr geht es nur um die jungen Mädchen, die in solche Situationen geraten und Schutz brauchen.

Daß der Film stark an eine Dokumentation erinnert, hat auch mit den beiden Mädchen zu tun, die so glaubwürdig die Verletzungen und Ängste ihres Trips nach New York bieten, die Chancen für eine Lösung aufgreifen und trotz Widrigkeiten nicht locker lassen. Ein einziges Mal ruft Autumn verzweifelt zu Hause an, hört die Stimme ihrer Mutter, legt aber auf.

Ein einziges Element gibt es im Film, das nicht sachlicher Natur ist, sondern geradezu psychoanalytische-poetische Folgen zeigt. Die beiden Mädchen fahren mit einem Riesenkoffer nach New York, obwohl sie weder Geld für Übernachtungen haben, noch länger dort bleiben wollen und dem Koffer auch nichts entnehmen, noch reinstecken. Für mich stecken in diesem Koffer, den die Cousine über Stock und Stein schleppt, die U-Bahn-Treppen hoch und runter, all die Probleme, die diese beiden jungen Mädchen belasten und die sie mit sich herumtragen. Ein starkes Symbol.