Bildschirmfoto 2020 10 29 um 16.08.45Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29.10. 2020, Teil 13

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main  (Weltexpresso) – Es  gibt immer wieder Filme, deren Wirkung in der Welt, auch wenn es nur die Filmwelt ist, einem nicht paßt. Stimmt, oft sind es sogar Filme, die einem zu hoch bewertet, zu angepriesen sind, dann aber sind es eben immer wieder auch Filme, von denen man den Eindruck hat, die Öffentlichkeit würde überhaupt nicht mitbekommen, welche wunderbarer Film auf der großen Leinwand läuft. Für mich ist so ein Film SCHWESTERLEIN, der auf der diesjährigen BERLINALE nicht die Hochschätzung erhielt, die ihm zukommt. Zärtlich, derb, leise, laut. Jede Menge Liebe: zu viel, zu wenig, zu heftig, subkutan. Als ich den Film mit Abstand als Pressevorführung in Frankfurt wiedersah, kam dieselbe Stimmung, dasselbe existentielle Gefühl wieder über mich. Besser, als ich es in Berlin unmittelbar am Tag des Schauens ausdrückte, kann ich es nicht.


SCHWESTERLEIN

Kategorie: Film & Fernsehen Veröffentlicht: 25. Februar 2020
Berlinale vom 20. 2. - 1. 3.2020, WETTBEWERB, Teil 8/18


Schwesterlein, Schwesterlein, wann geh wir nach Haus?
Früh, wenn die Hähne krähn,
wolln wir nach Hause gehn,
Brüderlein, Brüderlein, dann gehn wir nach Haus.

Kennen Sie das alte deutsche Volkslied in der spätromantischen Vertonung von Johannes Brahms, ans Herz gehend in den alten Aufnahmen, ob von Irmgard Seefried oder Elisabeth Schwarzkopf gesungen. In derselben Art geht einem das Zwillingspaar Lisa und Sven unter die Haut, das wir kennenlernen, als Lisa (Nina Hoss) für den an Leukämie erkrankten Sven (Lars Eidinger) Stammzellen spendet.

Sie ist dazu nach Berlin gekommen, denn sie lebt derzeit mit ihren zwei Kindern und mit ihrem Mann, der eine internationale Schule leitet, in der Schweiz, wohin sie den Bruder nach den OPs zur Erholung mitnimmt. Zuvor aber suchten beide die Schaubühne auf, wo Lisas Stücke aufgeführt werden und Sven der große Star ist, der in der Wiederaufnahme des HAMLET seine beste Motivation zur Gesundung sieht. Doch der Theaterleiter (Thomas Ostermeier als sein eigenes alter ego David) lehnt dies ab, er will, wie er später sagt, seinen Star nicht auf der Bühne sterben sehen.

Dieser Film ist so feinsinnig gespickt mit Personen und Handlungen, die nicht im Vordergrund stehen, aber die Melange dieses subtilen, eindrücklichen Films ausmachen. Eine davon ist die Mutter der Zwillinge (Marthe Keller) in Berlin in ihrer Messiewohnung, wo viele Familienszenen spielen, die uns die ‚Familienaufstellung‘ zeigen, die kleinen und großen familiären Wunden und den Egoismus einer alten Frau, die unfähig ist, für ihren kranken Sohn zu sorgen, weshalb ihn Lisa in die Schweiz mitnimmt.

Sven versteht sich gut mit seinem Neffen und seiner Nichte und wir bekommen insbesondere das liebevolle einvernehmliche Verhalten der Zwillinge mit, wo zwar durch die Krankheit das Geben und Nehmen einseitig auf der Schwester lastet, was aber eine Selbstverständlichkeit in dieser Situation ist. Nie fällt zwischen den beiden auch nur ein böses Wort. Aber durchaus mehrere zwischen den Eheleuten, denn Ehemann Martin (Jens Albinus) fühlt sich ausgesperrt aus der innigen Beziehung der beiden, will sich zudem für fünf weitere Jahre in der Schweiz als Leiter des Nobelinternats mit sehr gutem Gehalt verpflichten, während Lisa zurück will nach Berlin.

Sie schreibt an einem Theaterstück, auf ihren Bruder zugeschnitten: Hänsel und Gretel in einer modernen Version. Es fließt ihr nur so aus der Feder, doch all ihre Planungen werden durch den Verlauf der Krankheit zunichte gemacht. Zwar fliegt sie mit Bruder und Kindern nach Berlin, doch als sie mit einer Szene besonders zufrieden ans Krankenbett eilt, findet sie ihren Bruder für immer friedlich eingeschlafen vor.

Was hier mit schlichten Worten wiedergegeben ist, hat dramatische Vorgänge mit Kindesentführung, Intendantenbesuch, Paragleiten, Spielen mit den Kindern, Gespräche zwischen den Geschwistern, Einkaufen, Leben, Lieben auch noch zu bieten. Dies ist ein Film, der so fein gesponnen ist, daß man die vielen Details, die liebevoll diesen Film zu einem kleinen Kunstwerk machen, gar nicht aufzählen kann und einfach dankbar ist, daß es den Regisseurinnen gelungen ist, Bühne und Leben, Leben und Sterben, Lieben und Loslassen so auf die Leinwand zu bringen, wobei wir die Dichotomien fortsetzen können: denn es geht auch um Stadt und Land/Bergleben, Mann und Frau, Lüge und Wahrheit, Bruder und Schwester, Gesundheit und Krankheit, es geht also um alles und auch um uns alle.

Die beiden französischsprachigen schweizerischen Regisseurinnen wird man sich merken müssen. Und die Darstellerleistungen, insbesondere die des Zwillingspaars sind phönomenal, wobei Nina Hoss durch ihre Rolle über eine größere Bandbreite verfügt, Lars Eidinger dagegen durch die körperlichen Versehrtheit stärker eingeengt, den Mut zu Krankheit und Verfall aufbringt und auch den Mut, hier die zweite Geige zu spielen in einem Film, der nicht BRÜDERLEIN heißt, sondern SCHWESTERLEIN und der wegen der Darstellerleistung von Nina Hoss so besonders sehenswert ist.

Foto:
© Verleih

Info:
Regie und Buch:
Stéphanie Chuat, Véronique Reymond

Darsteller
Nina Hoss als Lisa
Lars Eidinger als Sven
Marthe Keller als Mutter der Zwillinge
Jens Albinus als Ehemann Martin
Tomas Ostermeier als er selber, genannt David