Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. Oktober 2013, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Sie können sich mit dem neuen Heimatfilm von Edgar Reitz auf ein wunderbares Kinoerlebnis freuen. Was für die Frankfurter Buchmesse mit dem diesjährigen Gastland BRASLIEN hinzu kommt, ist, daß sich die „Sehnsucht“ im Film auf die nach Brasilien Auswandernden bezieht und wir ein Brasilienbild mitnehmen, das die Alternative zum Schuften und doch zu nichts Kommen in Deutschland ist.

 

DIE ANDERE HEIMAT – CHRONIK EINER SEHNSUCHT

 

Edgar Reitz führt uns erneut nach Schabbach im Hunsrück, diesmal zurück ins 19. Jahrhundert. Erinnern Sie sich noch an die HEIMAT Trilogie von Edgar Reitz, von denen EINE DEUTSCHE CHRONIK aus dem Jahr 1984 am bekanntesten und auch im Ausland ein Sensationserfolg wurde. Das Gleiche ist gerade auf der Filmbiennale in Venedig geschehen, wo der neue Film von Reitz enthusiastisch gefeiert wurde. Und das, obwohl er 230 Minuten dauert!, obwohl wir nur schwarz-weiße Bilder sehen und noch dazu viel Kummer und Elend aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.

 

Aber wie Edgar Reitz das macht, wie er uns sachte und systematisch in die Geschichte der beiden so ungleichen Brüder aus Schabbach hineinzieht und wir mit den Augen sehen, was sonst nur Worte in Geschichtsbüchern uns erzählen, nämlich unter welchen schweren Bedingungen noch vor über 150 Jahren die bitterarme Landbevölkerung arbeitete und sich nur ein bißchen Leben leisten konnte, wie Reitz das macht, das ist grandios. Allerdings hat er auch vier Jahre dafür gebraucht, wobei die eigentliche Drehzeit nur vom 17. April bis zum 10. August 2012 war. Wer auf der Landkarte nachschauen will: sein fiktives Dorf Schabbach im Hunsrück hat er selbst erst errichten müssen und dann in Gehlweiler, Schlierschied, Morbach, Herrstein, Bernkastel, Wolf (Mosel) und in Retzstadt in Franken gedreht.

 

Er mußte die alten Gebäude neu erbauen – vieles nur als Kulisse und eindrucksvoll von außen - und natürlich auf alt und abgenutzt „schminken“, denn der Film spielt um die Mitte des 19. Jahrhunderts und es gibt nirgends mehr solche alten Häuser ohne die Modernisierungen von heute. Die Geschichte selbst mußte er nicht erfinden, denn die Spuren der Auswanderung vor 150 Jahren – hier nach Brasilien - finden sich noch heute im Hunsrück, wo einem die Leute von ihren eigenen Verwandten erzählen, die im fernen Südamerika ihre ANDERE HEIMAT gefunden haben und die dort noch immer den Hunsrücker Dialekt sprechen, den die heutigen Hunsrücker längst nicht mehr so perfekt beherrschen, weil Radio und Fernsehen auf Hochdeutsch daherkommt und sich der Dialekt weiter- oder auch zurückentwickelt, in Brasilien aber - nur in den Familien gesprochen - sich rein erhält.

 

Was Edgar Reitz dann vollends beflügelte, diesen Film zu machen, war, als er von einer „Genealogie der Familie Reitz in Brasilien“ hörte und sie in die Finger bekam, die ein katholischer Missionspater niedergeschrieben hatte, und Reitz auf diesem Weg erfuhr, daß auch aus seiner Verwandtschaft im Hunsrück junge Leute mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben die damals gefährliche Reise über den großen Teich unternahmen, in der Gewißheit, daß man die alte Heimat, Vater, Mutter, Geschwister wahrscheinlich nie wiedersehen wird. Der Film schildert ehrlich die damaligen Verhältnisse, auch die oft tyrannischen Erziehungsmethoden der Väter und liebevollen Wiedergutmachaktionen der Mütter. Mit 'ehrlich' meinen wir, daß geschichtsgenau rekonstruiert wurde, sowohl was Dinge und technische Verfahren angeht, wie das Verhalten und Verhältnis der Menschen zueinander. Das geht einem schon an die Nieren, ist aber nie pathetisch oder romantisierend.

 

Da ist Jakob, der jüngere Bruder, der gegen den Widerstand des Vaters jedes Buch liest, das er in die Finger bekommt und dank des Onkels sind das viele. Jan Dieter Schneider, von dem wir noch nie gehört hatten, stellt ihn als den jungen ungestümen, lernwilligen Tausendsassa da, der im Stehen, Gehen, Sitzen die Sprache der Urwaldindianer erlernt und ununterborchen anwendet, der dann mit solch jugendlichem Furor den fälligen Bestrafungsaktionen des Vaters widersteht, daß selbst dieser vor der Leidenschaft des Jungen irgendwann, sehr spät, aber nicht zu spät kapituliert. Jakob ist aber auch der fleißige Helfer bei vielen Gelegenheiten. Er führt das Tagebuch, dem entlang der Film sich entwickelt, wohinein er seine Gedanken und Gefühle schreibt und die Reaktionen der anderen, so daß im Film gleichzeitig als zweite Ebene das Lebensbild einer ganzen Zeit entsteht.

 

Der andere Bruder ist Gustav, der aus dem preußischen Militärdienst zurückkehrt und sich nun vorbereiten soll, dereinst den Hof zu übernehmen und die Schmiede des Vaters dazu. Ist Jakob der romantische Träumer, so ist Gustav der durchsetzungswillige Realist, der arbeiten kann wie ein Tier und der genau weiß, was er will. Ihn verkörpert Maximilian Scheidt mit der Unerbittlichkeit des jungen ungestümen Kraftmenschen, der aber nicht weniger im Kopf hat als Bruder Jakob, nur halt ganz anders. Gustav will Dampfmaschinen bauen und mit ihm verwebt uns Edgar Reitz in das durchdringende Geschehen der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und zwar nicht dort, wo Riesenfabriken entstehen, sondern ganz bescheiden auf dem Land, wo es solche Pioniere wie Gustav geschafft haben, daß wir heute in einer Welt leben können, wo uns Technik die harte körperliche Arbeit abnimmt.

 

Sehr elegant bringt uns der Film aber dabei auch bei, daß es im harten Geschäft von Technik und Industrialisierung solcher kreativer Träumer wie Jakob bedurfte, der, wenn Gustav nicht weiterwußte, durch seine Ideen Gustav den nächsten Schritt wies. Vergessen wir die Eltern nicht und vor allem die Frauen. Denn natürlich müssen, wo junge Männer sind, auch junge Frauen her und welche Schönheiten und Lieblichkeiten mit Jettchen, der Tochter eines verarmter Edelsteinschleifers und ihrer besten Freundin, dem Florinchen, einem Engel voller Liebesverlangen, in den Film einziehen, ist wunderbar natürlich und blumenbekränzt inszeniert. Und das alles bei der harten Arbeit in Hof, Feld und Garten, das muß man dazusagen.

 

Der Film, in dem wir lange das Erwachsenwerden der Brüdern, das Leben der ganzen Familie und Nachbarn mitleben, erhält seine Dynamik durch das, was das eigentliche Motiv der ANDEREN HEIMAT ist: das Auswandern. Wenn wir hier hautnah miterleben, was das für die, die gehen, an Angst vor dem Ungewissen, als Aufbruch ohne Wiederkehr, als Suche nach dem Glück bedeutet und wir dem Exodus zusehen, wie hochbepackte Planwagen in endlosen Kolonnen von Pferden gezogen über Täler und Berge zum Rhein schlingern, um den Rhein entlang an die Seehäfen zu gelangen, wo dann die Auswanderungsschiffe liegen, dann wird einem ganz klamm ums Herz und das nicht nur, weil die Zurückgebliebenen uns dauern und wir ihre Trauer teilen.

 

Wir heutigen Bundesdeutschen sind zwar die Themen von Flucht und Vertreibung, von Exil, Asyl und Wirtschaftschaftsflüchtlingen gewohnt, aber immer nur von der einen Seite: von der, wohin geflohen und eingewandert wird. Und in der Tat war dies für uns die stärkste Emotion im ganzen Film, als wir im Herzen mit den Auswanderern – nein, wir wollen nicht verraten, wer geht, ob Jakob oder Gustav und auch nicht, mit welcher Frau – da oben auf den Pferdefuhrwerken mitsaßen und mithörten, mit welchen Erwartungen sie nach Brasilien auswandern. Denn, daß sie es nicht aus Abenteuerlust taten, sondern aus nackter Not, das hatten wir den Film über sehr deutlich erkennen können. Edgar Reitz ist ein tief berührender eindrucksvoller Film gelungen, der uns Geschichte lebendig macht und uns auch zeigt, woher wir eigentlich kommen.