Bildschirmfoto 2020 12 15 um 02.22.04Der Skandalfilm von Gaspar Noé aus dem Jahr 2002, den der Regisseur 2020 neu und sensationell geschnitten hat als STRAIGHT NOÉ CUT, 2 DVDs von Studiocanal ab 10. Dezember, Teil 1/2 

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Das hat schon was und bereitet ein verbales intellektuelles Vergnügen, wenn ein Film IRREVERSIBLE heißt, der zu seiner Entstehungszeit auf der Biennale von Venedig 2002 – verständlicherweise – der große Skandal war, der Skandal-Thriller schlechthin, und nun der Regisseur den Film mit dem selben Filmmaterial umgeschnitten hat, wo doch irreversibel den Vorgang bezeichnet, daß etwas unumkehrbar ist. Doch, was Physik und Chemie nicht können, kann der Film!

Denn genau das hat Gaspar Noé getan und im letzten Jahr, als die Welt noch in Ordnung war, seine neue Fassung ebenfalls auf der Biennale von Venedig gezeigt. Alles umgekehrt und wie gesagt, mit dem selben Filmmaterial. Es beginnt mit den Einstellungen, die in der Erstfassung am Schluß kamen und sukzessive wird die neue Abfolge von hinten nach vorne geholt. Natürlich nicht im Rückwärtsgang, nein, es ist neu geschnitten, so daß die einzelnen Szenen die neue Reihenfolge ergeben. Warum das dem Film gut tut, erschließt sich sofort. Es ist die zeitliche, also chronologische, daher auch logische und damit psychologische Reihenfolge, in der wir jetzt das sexuell aufgeladen Geschehen verständlicher erleben. Wenigstens ging mir das so. Mag sein, daß Filmenthusiasten die Ursprungsfassung besser finden, wo es mit Blitzen und einer schwankenden Kamera im Rund beginnt und schrecklichen Geräuschen dazu. Zudem nackte, alte, dicke Männer mit dem Hinweis das Bild ausfüllen, der eine hätte mit seiner Tochter geschlafen. Die Welt ist aus den Fugen. Kalt.Wirre. Gefährlich sowieso.

Ich hatte den Film ursprünglich nicht gekannt, will sagen, nicht gesehen, weil mich die Ankündigung einer 20minütigen Vergewaltigung abgehalten hatte und mich auch die Nacktszenen nicht interessierten. Aber neugierig bin ich immer. Und die Ankündigung, einen Film umzuschneiden und beide zu vergleichen, hat mich einfach filmisch interessiert und im Nachhinein bin ich auch um die Erfahrung froh. Noch immer ist die Vergewaltigungsszene unerträglich. Aber das ist sie in Wirklichkeit erst recht und ich habe mir ständig vorgesagt: „Ist nur gespielt“. Und dann gleich zweimal.

Bei der Frage an mich selber, welchen Film ich mir zuerst anschauen will, war ich als Intellektuelle typisch auf Historie aus. Natürlich den Ursprungsfilm zuerst. Schwierig. Schwierig. Um was geht es hier überhaupt. Ich habe so vieles nicht verstanden, weil ich absichtlich völlig uninformiert mir die DVD eingelegt hatte. Denn ich versuche, als Rezensentin beim ersten Schauen mich in die Situation eines Filmzuschauers ohne Vorinformation zu versetzen. So mache ich das auch bei Filmfestspielen, weil ein Film ohne schrifltiche Erklärungen für sich selber sprechen muß, wobei die BERLINALE immer die größte Herausforderung ist, weil rund 24 Filme angeschaut und besprochen werden müssen.

Ich war nach dem Sehen der Ursprungsfassung von IRREVERSIBLE nachgerade verzweifelt, weil ich eben gar nicht gewußt hatte, mich auf jeden Fall nicht mehr erinnern konnte, daß der Regisseur seine Handlung von hinten nach vorne, also vom Ende der Handlung zum Beginn abgedreht hatte, bzw. so geschnitten hatte, denn das Drehen hat natürlich keinen Einfluß darauf, wann die Szenen im Film erscheinen. Den Film selbst stellt erst der Schnitt her, der in der Regel dem Drehbuch folgt.

Woran ich mich dagegen sehr gut erinnere ist MEMENTO, den Kriminalfilm von Christopher Nolan, zwei Jahre früher, also aus dem Jahr 2000, der sehr gut im Rückwärtsgang verständlich war. Es ist übrigens interessant, daß man einen Film leichter vom Ende zum Anfang erzählen kann, als dies in Worten möglich wäre.

Hier ist nicht vom gängigen Verfahren der Rückblenden im Film und der selben Technik in Romanen die Rede, denn es geht um das vollständige, hier filmische Erzählen vom Ende, dem schrecklichen Ende und Tod eines Unschuldigen her, chronologisch umgekehrt.

Fortsetzung folgt

Foto:
Cover

Info:
DVD: IRREVERSIBLE
Regie: Gaspar Noé; mit: Vincent Cassel, Monica Bellucci & Albert Dupontel,  u.v.a.
Laufzeit: ca.93 Minuten Kinofassung

DVD: IRREVERSIBLE STRAIGHT CUT
Regie: Gaspar Noé; mit: Vincent Cassel, Monica Bellucci & Albert Dupontel,  u.v.a.
Laufzeit: ca.86 Min.Straight Cut

Collector's Edition/DVD
Bild: 2,35:1
Sprachen: Deutsch, Französisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch  für Hörgeschädigte
Verpackung: DVD Schuber 2er

Extras: Audiokommentare von Gaspard Noé und Filmwissenschaftler Prof. Dr. Marcus Stiglegger,
Featurrete, "Die umkehrbare Reise", Die Spezialeffekte
Bestell.-Nr. 506889
EAN: 4006680092669

STUDIOCANAL & ARTHAUS

STUDIOCANALwollte beide Fassungen des Skandal-Thrillers in einer von Gaspar Noé beaufsichtigten Restaurierung ab dem 03. Dezember für kurze Zeit auf ausgewählten Kino-Leinwänden zeigen, was angesichts der Kinoschließungen wegen Corona nicht möglich war und legt ab dem 10. Dezember im Heimkino als limitierte Steelbook Edition auf Blu-ray und als DVD Collectors Edition sowie Digital die beiden Fassungen des Films vor.