Redaktion
Hollywood (Weltexpresso) - Der neue Film von Chloé Zhao (SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME, THE RIDER) ist ein mit epischem Atem erzähltes Porträt der nomadischen amerikanischen Seele und folgt der Spur von Saisonarbeitern, die von einer Arbeitsgelegenheit zur nächsten ziehen, ohne jemals zur Ruhe zu kommen – ein Roadmovie für unsere Zeit, das zusätzliche Bedeutung annimmt in dieser Zeit des Wandels und fortwährender Neudefinition.
Wir sehen die Pracht des amerikanischen Westens, von den Badlands in South Dakota über die Wüste von Nevada hin zum pazifischen Nordwesten, durch die Augen der 61-jährigen Fern. Gespielt wird sie von Frances McDormand (FARGO, THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI), die als eine Produzentin des Films auch Zhao mit an Bord holte, nachdem sie beim Betrachten des vorangegangenen Films der Regisseurin, THE RIDER, eine verwandte Seele entdeckte.
Zusammen formten sie das Porträt einer Frau, die einen Ehemann und ihr gesamtes bisheriges Leben verloren hat, als die Minenstadt, in der sie lebte, aufgelöst wurde. Aber sie stellt sich der Herausforderung, entdeckt eine ungekannte Stärke und beginnt ein neues Leben. Bei den Treffen der Nomaden findet sie eine neue Gemeinschaft. Dazu gehören Linda May und Swankie (echte Nomadinnen, die sich selbst spielen) ebenso wie Dave (David Strathairn), dem Fern immer näherkommt, und andere, die sie auf der Straße trifft. Am wichtigsten ist jedoch, dass sie sich, wie Chloé Zhao es ausdrückt, „in der Natur weiterentwickelt: In der Wildnis, den Felsen, Bäumen, Sternen, in einem Wirbelsturm entdeckt sie ihre Unabhängigkeit“.
2017 optionierten Frances McDormand und Produzent Peter Spears (CALL ME BY YOUR NAME) die Rechte an „Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“, ein Tatsachenroman der in Brooklyn ansässigen Schriftstellerin Jessica Bruder. “Das Buch ist eine Meisterleistung des investigativen Journalismus”, sagt Chloé Zhao. „Jedes Kapitel ist einem anderen Thema gewidmet. Die erste Hälfte des Buches wirft ein Schlaglicht auf nomadisches Leben, die andere Hälfte besteht aus einer undercover recherchierten Reportage – Jessica selbst ließ sich bei Amazon anstellen, um sich aus erster Hand einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und legte Hand an bei der Rübenernte.“
„Frances und ich hatten das Buch optioniert“, erinnert sich Peter Spears. „Dann sah Frances beim Toronto Film Festival Chloés THE RIDER und sagte zu mir: Du musst Dir diesen Film anschauen – ich glaube, Chloé Zhao ist die Richtige für unseren Film.“
„THE RIDER war der beste Film, den ich in langer Zeit gesehen hatte“, erinnert sich Frances McDormand. „Ich hatte keine vorgefertigte Meinung zu den Figuren und der Regisseurin; ich hatte auch nicht viel darüber gehört. Das ließ den Film wie eine persönliche Entdeckung wirken. Als Produzentin fühlte ich sofort eine Verbindung zu einer Regisseurin, die klassische männliche Versatzstücke des Westerngenres verwendete, um eine universelle Geschichte zu erzählen über einen Triumph gegen alle Widerstände, über den Willen zu überleben, über die Fähigkeit, die eigenen Träume zu revidieren und neu justieren.“
„Um das Buch zu recherchieren“, so erzählt Bruder, „tauchte ich tief ein in den Alltag der Menschen, über die ich schreiben wollte. Ich lebte Wochen lang in einem Zelt, danach über Monate hinweg in einem Van. Erfahrung ist ein großartiger Lehrer. Anfang wusste ich nicht viel über die Nomaden. Am Ende war ich fasziniert von der Kreativität, Widerstandsfähigkeit und Großzügigkeit, die ich unterwegs erlebte, oft von Menschen, die selbst mit kaum überwindbaren Herausforderungen in ihrem Leben zu kämpfen haben.“
„Ich war tatsächlich selbst gerade dabei, einen Van einzurichten“, sagt Chloé Zhao. „Aus der Erfahrung heraus, die ich bei meinen ersten beiden Filmen gemacht hatte, wo ich oft in meinem kleinen Subaru habe schlafen müssen. Aber mir aber zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst, wie groß das Ausmaß der Menschen ist, die diesen Lebensweg beschreiten. Fran und Peter gaben mir das Buch zu lesen, und ich dachte: „Wow, das habe ich alles überhaupt nicht gewusst.‘“
Bob Wells, der dank seiner YouTube-Videos und seines Buchs „How to Live in a Car, Van or RV“ mittlerweile über eine beachtliche Gefolgschaft verfügt, berichtet: „Ich war ein obdachloser Penner, der in seinem Van gelebt hat. Das war eine sehr, sehr schlimme Zeit in meinem Leben. Aber ich bekam meine Probleme gelöst und mein Leben wieder auf die Reihe. Und dann passierte etwas Eigenartiges: Ich habe mich in das Leben auf der Straße verliebt, in die Freiheit. Ich hatte alles getan, was mir die Gesellschaft gesagt hatte: habe mir einen Job gesucht, bekam Kinder, kaufte ein Haus... und nichts davon hat mich erfüllt oder glücklich gemacht. Und hier hatte ich genau das Gegenteil von dem getan, was mir die Gesellschaft gesagt hatte, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Daraufhin stellte ich alles in Frage!“
Er fährt fort: „Mir war klar, dass es nicht reichen würde, den Menschen zu sagen, sich aufzumachen und in der Wüste und den Nationalwäldern zu leben. Ich musste eine Gemeinschaft aufbauen. Es geht allen gleich: Menschen wollen andere Menschen finden. Ich erhielt viele E-Mails, in denen stand: „Wie finde ich Gleichgesinnte? Ich will nicht einfach alle Zelte abbrechen und dann ganz allein sein!‘ Gemeinschaft war das A und O.“ Dazu merkt er an: „Sehen Sie sich nur die Bergmänner des 19. Jahrhunderts an. Sie waren Fallensteller, sie liebten die Natur, sie liebten es, allein und für sich zu sein, sie liebten das Erforschen. Und doch kamen sie einmal im Jahr zusammen und ließen es gemeinsam krachen. Also stellte ich im Jahr 2011 das „Rubber Tramp Rendezvous“ auf die Beine. Im ersten Jahr kamen 45 Menschen. Letztes Jahr waren 8000 oder 10.000 mit dabei, und das ist konservativ geschätzt. Es ist nicht so leicht, in der Wüste so viele Leute zu zählen.“
Als Zhao begann, sich intensiver mit dem Projekt zu befassen, überlegte sie zunächst, was für einen Film sie eigentlich machen wollte. Sie beschloss, ihre bewährte Art des Filmens weiterzuführen, aber gleichzeitig auch in Frage zu stellen. „Ich habe bisher eine bestimmte Art Film gemacht“, sagt die Filmemacherin. „Und ich weiß, was ich gelernt habe, um das einigermaßen gut umzusetzen. Das wollte ich nicht aufgeben, sondern darauf aufbauen. Gleichzeitig überlegte ich, was ich anders machen könnte, auf eine Weise, wie das nicht unbedingt üblich ist.“
Sie erzählt weiter: „Fran kam auf mich zu als Produzentin, und von Anfang fragte sie mich aber, ob ich es mir überhaupt vorstellen konnte, dass sie auch als Schauspielerin mit an Bord wäre. Die Sache ist folgende: Ich hatte den Eindruck, dass es nicht leicht werden würde, diesen Film einem Publikum schmackhaft zu machen. Bei THE RIDER war es einfach: Es ging um Cowboys, es war ein „Western“. Aber dieser Stoff hier ist sperriger: Altersdiskriminierung ist ein Thema in diesem Land, es herrschen Vorurteile gegen Geschichten über ältere Menschen und Menschen, die sich an der Peripherie der Gesellschaft bewegen. Ich dachte mir also, wenn Fran mit mir konform geht, könnten wir all diese Punkte nahtlos in Angriff nehmen und in unserem Film unterbringen. Für mich war es im Grunde von Anfang an eine pragmatische Entscheidung. Aber es war auch eine kreative Herausforderung, auf die ich neugierig war.“
„Ich denke, dass es für Frances sofort spannend war, darüber nachzudenken, wie diese verschiedene Art von Film mit dieser besonderen Filmemacherin aussehen könnte“, meint Produzent Peter Spears.
„Als Fern „arbeitete“ ich tatsächlich Seite an Seite mit den anderen Angestellten in einem Amazon-Verteilerzentrum, bei einer Zuckerrübenernte, in der Cafeteria einer Touristenattraktion und in einem Nationalpark“, sagt McDormand. „In den meisten Fällen hat man mich auch nicht als jemand anderen als eine Arbeiterin wahrgenommen. Natürlich habe ich nicht das komplette Tagespensum absolviert, das man arbeiten müsste, wenn man wirklich angestellt wäre. Aber es war uns wichtig zu zeigen, wie diese Arbeit, ihre Umstände und ihre Konsequenzen wirklich aussehen: die körperlichen Belastungen und Anstrengungen für ältere Menschen, aber genauso auch die Freude an der Arbeit, das Leben in der Natur im Nationalpark, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und das nötige Geld zum Leben zu verdienen.“
Chloé Zhao arbeitete dabei eng mit Frances McDormand zusammen. „Fran und ich verbrachten viel Zeit miteinander, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg machten. Ich habe sie dabei sehr gut kennengelernt und viel über sie erfahren. Sie gehört nicht zu den Schauspielerinnen, die das Bedürfnis haben, endlos über ihre Figur zu reden. Ihr gefällt es, richtig anzupacken, sich körperlich „reinzuarbeiten“, sie mag Dinge, die man anfassen kann. Da lagen wir vollkommen auf einer Wellenlänge“, erinnert sich Zhao.
„Chloé taucht immer vollkommen ein in die Lebensnarrative ihrer Figuren und sucht nach einem „Haken“, der ihr den dramaturgischen Spannungsbogen für einen Film liefert“, erklärt Frances McDormand. „Unser Prozess bei NOMADLAND war für uns beide eine Herausforderung, weil wir Laien aus der Nomaden-Gemeinde mit David Strathairn und mir als Schauspielprofis vermischen. Chloé und unser Kameramann Josh verbrachten dafür Zeit mit David und mir und unseren Familien in der Kleinstadt, in der wir leben. Chloé machte sich Notizen über ihre Beobachtungen, unseren freundschaftlichen Umgang miteinander und entwickelte daraus ihre Vorstellung von Fern und Dave.“
Gemeinsam machten sich Chloé Zhao und Frances McDormand daran, Ferns Nomaden-Zuhause auf vier Rädern auszustatten, ein Bus der Marke Ford Econoline, den McDormand feierlich „Vanguard“ (Speerspitze) taufte. „Wir überlegten uns: Wie würde Fern ihren Lebensraum gestalten?“, sagt Chloé Zhao. „Wenn man auf einer so kleinen Fläche lebt, sagt das, was man um sich hat, viel darüber aus, wer diese Person ist – mehr auf jeden Fall, als wenn man in einem Haus leben würde.“
Und Frances McDormand erklärt: „Bei unserer gemeinsamen Suche nach Fern unterhielten wir uns intensiv darüber, wie ich Dinge aus meinem Leben nehmen und in Ferns Leben unterbringen könnte. Viel davon hatte mit meinem Hintergrund zu tun, aber auch damit, wie ich meinen Alltag gestalte. Ich schlug Handarbeiten vor, weil sich damit gut Zeit verbringen lässt, wenn man unterwegs ist. Man kann dabei praktische Dinge für seine alltäglichen Bedürfnisse herstellen, die aber auch verkauft werden können. Ich nahm meine Tüte mit Topflappen mit – ich stellte ungefähr 75 von ihnen her und verteilte sie an verschiedene Menschen, denen wir während der Dreharbeiten begegneten, und auch an Mitglieder unseres kleinen Teams. Und wir konnten sie als Requisite nutzen.“
„Aus meinem eigenen Leben brachte ich auch eine Garnitur Geschirr mit, das sich Herbstblatt nennt, weil es in Blattform gestaltet ist“, fährt die Schauspielerin fort. „Als ich das College abschloss, suchte mein Vater ein ganzes Set dieses Geschirrs auf Flohmärkten und Hofverkäufen zusammen. Das war sein Schulabschlussgeschenk an mich. Ich fand, dass dieses Geschirr gut zu Fern passen würde, und weil es eine große persönliche Bedeutung für mich hat, würde es helfen, die Figur insgesamt zu vertiefen. Außerdem nahm ich mein Silberbesteck mit, das ziemlich spitze ist.“
Chloé Zhao berichtet: „Weil wir Laien, die bei keiner Gewerkschaft unter Vertrag sind, Rollen in unserem Film übergeben wollten und sie sich in diesem Moment selbst spielen sollten, mussten wir einen Weg finden, wie auch Fern in diesen Momenten immer sie selbst sein musste, weil sie ja nicht wissen konnte, wie die Darsteller in ihrer Gegenwart agieren würden. Deshalb steckt sehr viel von der echten Frances McDormand in unserem Film.“
„Bei SONGS MY BROTHER TAUGHT ME haben wir nur mit einem Treatment anstelle eines Drehbuchs gearbeitet“, erinnert sich Produzentin Mollye Asher. „Chloé schrieb die einzelnen Szenen dann immer vor Beginn des jeweiligen Drehtags. Bei NOMADLAND war ihr Prozess mehr wie bei THE RIDER, für den ein Drehbuch vorlag, das sie allerdings jeden Tag neu anpasste, mit anderen Dialogen oder ganzen Szenen, immer abhängig davon, was wir am Tag davor erlebt und gedreht hatten.“
Foto:
Regisseurin Chloé Zhao
©Verleih
Info:
NOMADLAND
von Chloé Zhao, USA/D 2020, 108 Min.
mit Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Gay DeForest
2017 optionierten Frances McDormand und Produzent Peter Spears (CALL ME BY YOUR NAME) die Rechte an „Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“, ein Tatsachenroman der in Brooklyn ansässigen Schriftstellerin Jessica Bruder. “Das Buch ist eine Meisterleistung des investigativen Journalismus”, sagt Chloé Zhao. „Jedes Kapitel ist einem anderen Thema gewidmet. Die erste Hälfte des Buches wirft ein Schlaglicht auf nomadisches Leben, die andere Hälfte besteht aus einer undercover recherchierten Reportage – Jessica selbst ließ sich bei Amazon anstellen, um sich aus erster Hand einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und legte Hand an bei der Rübenernte.“
„Frances und ich hatten das Buch optioniert“, erinnert sich Peter Spears. „Dann sah Frances beim Toronto Film Festival Chloés THE RIDER und sagte zu mir: Du musst Dir diesen Film anschauen – ich glaube, Chloé Zhao ist die Richtige für unseren Film.“
„THE RIDER war der beste Film, den ich in langer Zeit gesehen hatte“, erinnert sich Frances McDormand. „Ich hatte keine vorgefertigte Meinung zu den Figuren und der Regisseurin; ich hatte auch nicht viel darüber gehört. Das ließ den Film wie eine persönliche Entdeckung wirken. Als Produzentin fühlte ich sofort eine Verbindung zu einer Regisseurin, die klassische männliche Versatzstücke des Westerngenres verwendete, um eine universelle Geschichte zu erzählen über einen Triumph gegen alle Widerstände, über den Willen zu überleben, über die Fähigkeit, die eigenen Träume zu revidieren und neu justieren.“
„Um das Buch zu recherchieren“, so erzählt Bruder, „tauchte ich tief ein in den Alltag der Menschen, über die ich schreiben wollte. Ich lebte Wochen lang in einem Zelt, danach über Monate hinweg in einem Van. Erfahrung ist ein großartiger Lehrer. Anfang wusste ich nicht viel über die Nomaden. Am Ende war ich fasziniert von der Kreativität, Widerstandsfähigkeit und Großzügigkeit, die ich unterwegs erlebte, oft von Menschen, die selbst mit kaum überwindbaren Herausforderungen in ihrem Leben zu kämpfen haben.“
„Ich war tatsächlich selbst gerade dabei, einen Van einzurichten“, sagt Chloé Zhao. „Aus der Erfahrung heraus, die ich bei meinen ersten beiden Filmen gemacht hatte, wo ich oft in meinem kleinen Subaru habe schlafen müssen. Aber mir aber zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst, wie groß das Ausmaß der Menschen ist, die diesen Lebensweg beschreiten. Fran und Peter gaben mir das Buch zu lesen, und ich dachte: „Wow, das habe ich alles überhaupt nicht gewusst.‘“
Bob Wells, der dank seiner YouTube-Videos und seines Buchs „How to Live in a Car, Van or RV“ mittlerweile über eine beachtliche Gefolgschaft verfügt, berichtet: „Ich war ein obdachloser Penner, der in seinem Van gelebt hat. Das war eine sehr, sehr schlimme Zeit in meinem Leben. Aber ich bekam meine Probleme gelöst und mein Leben wieder auf die Reihe. Und dann passierte etwas Eigenartiges: Ich habe mich in das Leben auf der Straße verliebt, in die Freiheit. Ich hatte alles getan, was mir die Gesellschaft gesagt hatte: habe mir einen Job gesucht, bekam Kinder, kaufte ein Haus... und nichts davon hat mich erfüllt oder glücklich gemacht. Und hier hatte ich genau das Gegenteil von dem getan, was mir die Gesellschaft gesagt hatte, und zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich. Daraufhin stellte ich alles in Frage!“
Er fährt fort: „Mir war klar, dass es nicht reichen würde, den Menschen zu sagen, sich aufzumachen und in der Wüste und den Nationalwäldern zu leben. Ich musste eine Gemeinschaft aufbauen. Es geht allen gleich: Menschen wollen andere Menschen finden. Ich erhielt viele E-Mails, in denen stand: „Wie finde ich Gleichgesinnte? Ich will nicht einfach alle Zelte abbrechen und dann ganz allein sein!‘ Gemeinschaft war das A und O.“ Dazu merkt er an: „Sehen Sie sich nur die Bergmänner des 19. Jahrhunderts an. Sie waren Fallensteller, sie liebten die Natur, sie liebten es, allein und für sich zu sein, sie liebten das Erforschen. Und doch kamen sie einmal im Jahr zusammen und ließen es gemeinsam krachen. Also stellte ich im Jahr 2011 das „Rubber Tramp Rendezvous“ auf die Beine. Im ersten Jahr kamen 45 Menschen. Letztes Jahr waren 8000 oder 10.000 mit dabei, und das ist konservativ geschätzt. Es ist nicht so leicht, in der Wüste so viele Leute zu zählen.“
Als Zhao begann, sich intensiver mit dem Projekt zu befassen, überlegte sie zunächst, was für einen Film sie eigentlich machen wollte. Sie beschloss, ihre bewährte Art des Filmens weiterzuführen, aber gleichzeitig auch in Frage zu stellen. „Ich habe bisher eine bestimmte Art Film gemacht“, sagt die Filmemacherin. „Und ich weiß, was ich gelernt habe, um das einigermaßen gut umzusetzen. Das wollte ich nicht aufgeben, sondern darauf aufbauen. Gleichzeitig überlegte ich, was ich anders machen könnte, auf eine Weise, wie das nicht unbedingt üblich ist.“
Sie erzählt weiter: „Fran kam auf mich zu als Produzentin, und von Anfang fragte sie mich aber, ob ich es mir überhaupt vorstellen konnte, dass sie auch als Schauspielerin mit an Bord wäre. Die Sache ist folgende: Ich hatte den Eindruck, dass es nicht leicht werden würde, diesen Film einem Publikum schmackhaft zu machen. Bei THE RIDER war es einfach: Es ging um Cowboys, es war ein „Western“. Aber dieser Stoff hier ist sperriger: Altersdiskriminierung ist ein Thema in diesem Land, es herrschen Vorurteile gegen Geschichten über ältere Menschen und Menschen, die sich an der Peripherie der Gesellschaft bewegen. Ich dachte mir also, wenn Fran mit mir konform geht, könnten wir all diese Punkte nahtlos in Angriff nehmen und in unserem Film unterbringen. Für mich war es im Grunde von Anfang an eine pragmatische Entscheidung. Aber es war auch eine kreative Herausforderung, auf die ich neugierig war.“
„Ich denke, dass es für Frances sofort spannend war, darüber nachzudenken, wie diese verschiedene Art von Film mit dieser besonderen Filmemacherin aussehen könnte“, meint Produzent Peter Spears.
„Als Fern „arbeitete“ ich tatsächlich Seite an Seite mit den anderen Angestellten in einem Amazon-Verteilerzentrum, bei einer Zuckerrübenernte, in der Cafeteria einer Touristenattraktion und in einem Nationalpark“, sagt McDormand. „In den meisten Fällen hat man mich auch nicht als jemand anderen als eine Arbeiterin wahrgenommen. Natürlich habe ich nicht das komplette Tagespensum absolviert, das man arbeiten müsste, wenn man wirklich angestellt wäre. Aber es war uns wichtig zu zeigen, wie diese Arbeit, ihre Umstände und ihre Konsequenzen wirklich aussehen: die körperlichen Belastungen und Anstrengungen für ältere Menschen, aber genauso auch die Freude an der Arbeit, das Leben in der Natur im Nationalpark, das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und das nötige Geld zum Leben zu verdienen.“
Chloé Zhao arbeitete dabei eng mit Frances McDormand zusammen. „Fran und ich verbrachten viel Zeit miteinander, bevor wir uns gemeinsam auf den Weg machten. Ich habe sie dabei sehr gut kennengelernt und viel über sie erfahren. Sie gehört nicht zu den Schauspielerinnen, die das Bedürfnis haben, endlos über ihre Figur zu reden. Ihr gefällt es, richtig anzupacken, sich körperlich „reinzuarbeiten“, sie mag Dinge, die man anfassen kann. Da lagen wir vollkommen auf einer Wellenlänge“, erinnert sich Zhao.
„Chloé taucht immer vollkommen ein in die Lebensnarrative ihrer Figuren und sucht nach einem „Haken“, der ihr den dramaturgischen Spannungsbogen für einen Film liefert“, erklärt Frances McDormand. „Unser Prozess bei NOMADLAND war für uns beide eine Herausforderung, weil wir Laien aus der Nomaden-Gemeinde mit David Strathairn und mir als Schauspielprofis vermischen. Chloé und unser Kameramann Josh verbrachten dafür Zeit mit David und mir und unseren Familien in der Kleinstadt, in der wir leben. Chloé machte sich Notizen über ihre Beobachtungen, unseren freundschaftlichen Umgang miteinander und entwickelte daraus ihre Vorstellung von Fern und Dave.“
Gemeinsam machten sich Chloé Zhao und Frances McDormand daran, Ferns Nomaden-Zuhause auf vier Rädern auszustatten, ein Bus der Marke Ford Econoline, den McDormand feierlich „Vanguard“ (Speerspitze) taufte. „Wir überlegten uns: Wie würde Fern ihren Lebensraum gestalten?“, sagt Chloé Zhao. „Wenn man auf einer so kleinen Fläche lebt, sagt das, was man um sich hat, viel darüber aus, wer diese Person ist – mehr auf jeden Fall, als wenn man in einem Haus leben würde.“
Und Frances McDormand erklärt: „Bei unserer gemeinsamen Suche nach Fern unterhielten wir uns intensiv darüber, wie ich Dinge aus meinem Leben nehmen und in Ferns Leben unterbringen könnte. Viel davon hatte mit meinem Hintergrund zu tun, aber auch damit, wie ich meinen Alltag gestalte. Ich schlug Handarbeiten vor, weil sich damit gut Zeit verbringen lässt, wenn man unterwegs ist. Man kann dabei praktische Dinge für seine alltäglichen Bedürfnisse herstellen, die aber auch verkauft werden können. Ich nahm meine Tüte mit Topflappen mit – ich stellte ungefähr 75 von ihnen her und verteilte sie an verschiedene Menschen, denen wir während der Dreharbeiten begegneten, und auch an Mitglieder unseres kleinen Teams. Und wir konnten sie als Requisite nutzen.“
„Aus meinem eigenen Leben brachte ich auch eine Garnitur Geschirr mit, das sich Herbstblatt nennt, weil es in Blattform gestaltet ist“, fährt die Schauspielerin fort. „Als ich das College abschloss, suchte mein Vater ein ganzes Set dieses Geschirrs auf Flohmärkten und Hofverkäufen zusammen. Das war sein Schulabschlussgeschenk an mich. Ich fand, dass dieses Geschirr gut zu Fern passen würde, und weil es eine große persönliche Bedeutung für mich hat, würde es helfen, die Figur insgesamt zu vertiefen. Außerdem nahm ich mein Silberbesteck mit, das ziemlich spitze ist.“
Chloé Zhao berichtet: „Weil wir Laien, die bei keiner Gewerkschaft unter Vertrag sind, Rollen in unserem Film übergeben wollten und sie sich in diesem Moment selbst spielen sollten, mussten wir einen Weg finden, wie auch Fern in diesen Momenten immer sie selbst sein musste, weil sie ja nicht wissen konnte, wie die Darsteller in ihrer Gegenwart agieren würden. Deshalb steckt sehr viel von der echten Frances McDormand in unserem Film.“
„Bei SONGS MY BROTHER TAUGHT ME haben wir nur mit einem Treatment anstelle eines Drehbuchs gearbeitet“, erinnert sich Produzentin Mollye Asher. „Chloé schrieb die einzelnen Szenen dann immer vor Beginn des jeweiligen Drehtags. Bei NOMADLAND war ihr Prozess mehr wie bei THE RIDER, für den ein Drehbuch vorlag, das sie allerdings jeden Tag neu anpasste, mit anderen Dialogen oder ganzen Szenen, immer abhängig davon, was wir am Tag davor erlebt und gedreht hatten.“
Foto:
Regisseurin Chloé Zhao
©Verleih
Info:
NOMADLAND
von Chloé Zhao, USA/D 2020, 108 Min.
mit Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie, Bob Wells, Gay DeForest