Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Juli 2021, Teil 10
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) - Grace (Annette Bening) und Edward (Bill Nighy) leben in einem gemütlichen mit Erinnerungsstücken vollgestopften Häuschen in dem Küstenort Seaford im Süden Englands. In der Nähe gibt es Klippen namens "Hope Gap", die von ihnen und ihrem Sohn Jamie (Josh O’Connor) immer wieder besucht worden sind. Die Beiden stehen jetzt kurz vor ihrem 29. Hochzeitstag. Grace ist jetzt Hausfrau und arbeitet an einer Anthologie von Gedichten, Edward ist Geschichtslehrer, der als Hobby geschichtsbezogene Artikel in Wikipedia korrigiert. Gerade beschäftigt er sich mit dem Winterfeldzug Napoleons nach Russland.
Doch schon seit langem finden die Eheleute keinen gemeinsamen Nenner mehr. Denn Grace und Edward passen eigentlich gar nicht zusammen. Dabei vermeiden sie Aussprachen und Wahrheiten. Äußerlich sieht man das daran, dass Edwards Schreibtisch aufgeräumt ist und auf Grace Schreibtisch das Chaos herrscht. Edward möchte nur seine Ruhe haben und Grace lechzt nach Aufmerksamkeit. Das geht soweit, dass Grace während eines Disputes Edward eine Ohrfeige gibt, auf die er aber gar nicht reagiert.
Jetzt hat Edward ihren gemeinsamen Sohn Jamie gebeten, übers Wochenende zu Besuch zu kommen, was Jamie wegen der vielen Streitereien und der ewigen Fragen seiner Mutter nach seinem Liebesleben möglichst vermeidet.
Am nächsten Morgen, während Grace in der Kirche ist, eröffnet Edward seinem Sohn, dass er beschlossen hat, Grace zu verlassen, da er sich in eine andere Frau namens Angela, die verwitwete Mutter eines Schülers, verliebt hat und mit ihr schon seit einem Jahr ein Verhältnis hat. Er hat bereits seinen Koffer gepackt und bittet Jamie, sich nach seinem Auszug um Grace zu kümmern. Er will Grace auch das Haus überlassen.
Als Edward Grace seinen Beschluss mitteilt, hält sie es erst einmal für einen üblen Scherz, doch dann erkennt sie, dass es ihrem Ehemann Ernst ist. Doch so schnell gibt Grace nicht auf. Trotz aller Unzufriedenheiten und Unterschiede will sie unbedingt an ihrer Ehe festhalten und beginnt um Edward zu kämpfen. Dazu benutzt sie Jamie, der immer wieder zwischen seinen Eltern als Boten und Vermittler dienen muss, was dem jungen Mann schwer zu schaffen macht.
Doch Edward hat sich entschieden. Er erklärt Jamie, dass er schon seit langem das Gefühlt hat, bereits zu Beginn ihrer Ehe falsch abgebogen zu sein. Jetzt fragt sich Jamie, ob seine Kindheit wirklich glücklich war.
Dann erhält Grace die Scheidungspapiere und will sich unbedingt mit Edward und Jamie beim Anwalt treffen. Doch wird sich Edward noch umstimmen lassen?
Regisseur und Drehbuchautor von "Wer wird sind und wer wir waren" ist William Nicholson, der bereits für seine Filmdrehbücher zu "Shadowlands" (1993) und "Gladiator" (2000) für einen Oscar nominiert wurde und der auch Drehbücher für weitere erfolgreiche Filme geschrieben hat. Jetzt verfilmt er sein eigenes Theaterstück The Retreat from Moscow, das beim Chichester Festival Theatre im Oktober 1999 Premiere hatte, Das Theaterstück wurde auch für den prestigeträchtigen Tony Award nominiert. Das Stück ist wiederum eine Adaption von den Erfahrungen mit seinen eigenen Eltern. Im Vergleich zum Theaterstück wurde der Name der weiblichen Hauptrolle von Alice in Grace verändert.
Auch wenn es im Film einige Nebenfiguren gibt - wie Jess (Aiysha Hart) und Dev (Ryan McKen), zwei Freunde und Arbeitskollegen von Jamie, den Notar Peter Widdecombe (Steven Pacey) und einen kurzen Auftritt von Edwards neuer Freundin Angela (Sally Rodgers), ist der Film doch auf die drei Hauptpersonen Grace, Edward und Jamie konzentriert. Dabei hört man bereits am Anfang Jamies Stimme aus dem Off. Die macht deutlich, dass das Drama aus dessen Sicht gezeigt wird.
Nicholson hat keine neue Story erfunden, sondern er erzählt eine Geschichte, die in zahllosen Ehen passiert. Wenn der Nachwuchs aus dem Haus ist, merken die Eheleute, dass sie eigentlich kaum noch Gemeinsamkeiten haben. Dazu kommt noch, dass in diesem Film die Ehepartner wirklich sehr verschieden sind.
Grace ist extrovertiert, exzentrisch und streitsüchtig, sie will unter allen Umständen Aufmerksamkeit - sowohl von ihrem Mann als auch ihrem Sohn. Annette Bening zeigt dies, in dem sie Grace pathetisch reagieren lässt. Dabei hat sie Angst vor der Einsamkeit und vor einem Leben ohne Liebe. Doch eigentlich kann sie selbst keine Liebe geben, denn sie muss den zurückhaltenden Edward immer wieder angreifen. Damit legt sie es eigentlich auf ein Scheitern der Ehe an, vor allem, wenn sie immer wieder von Scheidung oder Trennung spricht.
Bill Nighy spielt zurückhaltend und sprachlos Edward, der sich in den Jahren der Ehe auf sich selbst zurückgezogen hat und auch kaum auf körperliche Angriffe von seiner Frau reagiert. Jetzt allerdings ist er fest entschlossen aus seiner Ehe auszubrechen, denn seine neue Lebensgefährtin Angela akzeptiert ihn und seine ruhige und verschlossene Art. Traurig sind allerdings die Szenen, wenn er seinem Sohn gegenüber zugibt, dass die Ehe möglicherweise von Anfang an ein Fehler war, da beide doch sehr verschieden waren.
Jamie wiederum sitzt zwischen den Stühlen. Doch gerade hier vermeidet der Film Schuldzuweisungen. Als Sohn will er für keine Seite Partei ergreifen, dabei muss er die Wut seiner Mutter auffangen, die Edwards Verhalten die ganzen Jahre falsch eingeschätzt hat. Auch wenn er mit ihr leidet, geht ihm seine fordernde Mutter doch auch selbst auf die Nerven, vor allem wenn sie ihn regelmäßig nach seinem Liebesleben ausfragt und ihn herunter macht, wenn er nicht bereit ist, auf ihre Spielchen einzugehen. Durch die Gespräche mit seinem Vater lernt Jamie aber auch ihn und damit auch seine eigenen Verhaltensweisen besser zu verstehen.
Durch das Hin und Her zwischen Grace, Edward und Jamie entwickelt das Drama eine interessante Dynamik, die immer wieder neue Facetten des Zusammenlebens, Probleme in der Vergangenheit und mögliche zukünftige Entwicklungen darstellt.
Auch wenn - wie schon gesagt - die Geschichte nicht neu ist, hat Regisseur William Nicholson ein differenziertes und spannendes Drama über die Trennung einer langjährigen Ehe geschaffen, bei der es nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern viel mehr um die Unvereinbarkeit der Lebensentwürfe von zwei sehr unterschiedlichen Menschen.
"Wer wir sind und wer wir waren" lebt vor allem von den hervorragenden schauspielerischen Leistungen der drei Hauptdarsteller Annette Bening, Bill Nighy und Josh O‘Connor. Aber nicht nur deren Darstellungen, sondern auch die realitätsnah und einfühlsam gestaltete Story macht den Film unbedingt sehenswert.
Foto 1: Annette Bening als Grace und Bill Nighy als Edward © Tobis Film GmbH
Foto 2: Josh O'Connor als Jamie und Bill Nighy als Edward © Tobis Film GmbH
Info:
Wer wir sind und wer wir waren (Großbritannien 2020)
Originaltitel: Hope Gap
Genre: Drama
Filmlänge: 100 Min.
Regie: William Nicholson
Drehbuch: William Nicholson
Darsteller: Annette Bening, Bill Nighy, Josh O'Connor, Sally Rogers, Aiysha Hart u.a.
Verleih: Tobis Film GmbH
FSK: ab 6 Jahren
Kinostart: 29.07.2021