Redaktion
Berlin (Weltexpresso) - DIE ADERN DER WELT ist Ihr vierter Film über Rituale und Lebensweisen der mongolischen Nomaden. Wie unterscheidet sich die Entwicklung dieser Geschichte von Ihrem ersten Film vor fast 20 Jahren?
Die Dringlichkeit und meine Erschütterung darüber, was mit meinem Land passiert. Ich war mit Eva Kemme und Ansgar Frerich mitten in der Entwicklung eines anderen Stoffes und kam von einer Reise in meine Heimat zurück. Ich habe dann neu angefangen mit DIESER Geschichte, mit DIE ADERN DER WELT. Ich musste unbedingt über diesen Raubbau und die Verdrängung der Nomaden erzählen. Über das Versiegen der Wasserquellen und die großräumige völlige Verschiebung der Landschaft inklusive der Flüsse, in der man heute keine Fische mehr ganz nebenbei mit der Hand fangen kann wie damals. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, es ist meine Verantwortung.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit den Reaktionen der ZuschauerInnen auf Ihre bisherige Arbeit?
Nach Vorführungen meiner Filme oder im Anschluss an meine Fotovorträge kommen oft Menschen zu mir, die mir von ihrer Sehnsucht nach dem Leben in und mit der Natur und der Einfachheit und Überschaubarkeit des Lebens erzählen. Ein Gefühl, das sie in meinen Erzählungen gespiegelt sehen. Auch ich teile häufig diese Sehnsucht nach dem, was das Nomadenleben ausmacht. Umso bizarrer ist es dann, dass so viele Menschen in der Mongolei von einem Leben wie hier in Deutschland träumen.
Was wäre Ihr größter Wunsch als Reaktion auf Ihre Filme und speziell auf DIE ADERN DER WELT?
In den letzten 25 Jahren hat das Thema Bodenschätze das Land tief gespalten. Teilweise ist von globalen Mächten gewollt, dass wir ein reiner Rohstofflieferant bleiben, statt uns selbst weiterzuentwickeln.
Mein Blick von außen auf meine Heimat soll die Menschen in der Mongolei wachrütteln, dass sie ihr Land nicht der Verwüstung preisgeben. Ich wünsche mir, dass in der Mongolei das Bewusstsein wächst, dass wir mehr sind als ein billiger Rohstofflieferant. Die Mongolei kann der Welt in der heutigen ökologischen Krise Wissen und Achtsamkeit gegenüber der Natur vermitteln. Für mein Land wünsche ich mir darüber hinaus, dass wir unsere wirtschaftliche und industrielle Wertschöpfung in diesem Geist zum Gedeihen bringen. Für die Zuschauer anderswo erhoffe ich mir, dass sie die Schönheit meiner Heimat kennen und lieben lernen, um mehr Achtsamkeit für den Umgang mit den Schätzen anderer Länder zu gewinnen. Es ist dringend an der Zeit zu sehen: Es geht etwas unwiederbringlich kaputt an unserer Erde.
Der Bergbau, insbesondere das Goldschürfen in der Mongolei, steht exemplarisch für die Verletzungen durch die Industrie an der Natur und am Lebensraum von Menschen. Das zeigt auch Sebastiao Salgado mit seinen Fotos aus Brasilien, weshalb man seine Bilder auch ‚sozialdokumentarisch‘ genannt hat. Ihre Filme changieren immer zwischen Fiktion und Dokumentarischem. Wie würden Sie selbst Ihre Arbeit beschreiben?
Als Kind hat es mich immer fasziniert, wie in der Wüste Gobi ein kleines Sandkorn die Welt als Fata Morgana spiegeln kann. Ich meinen Filmen versuche ich, ähnlich dem Sandkorn, die Welt in der kleinsten menschlichen Einheit, der Familie, zu spiegeln.
DIE ADERN DER WELT ist eine Fiktion auf einem dokumentarischen Hintergrund. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Wir haben mit Schauspielern gearbeitet, aber keine unserer Filmumgebungen außen war für den Film gebaut. Sie war einfach genauso da in der Realität: Wir drehten mittendrin im Schürfland. Der Baum im Film auf dem Hügel steht genau auf der Grenze zwischen noch nicht lizensiertem Gebiet und Schürfgebiet. Wir planten für manche Szenen eigentlich VFX-Anteile, die wir dann gar nicht brauchten, weil z.B. die Goldschürfer schon viel näher gerückt waren, als wir dachten. Das ist ein großes Glück für mich als Filmemacherin, aber eine große Tragödie für mich als Mongolin. Denn es geht ja nicht nur um Landraub und -zerstörung. Es geht um Traditions- und Kulturraub: Es wird Kultur- und Naturwissen zerstört, wenn die Lebensräume zerstört werden.
Nochmal zu Ihrem Satz vom Sandkorn und der Familie: All Ihre Filme handeln von Familien und deren Ritualen und Traditionen. Sie sind im besten Sinne Familienfilme, weil auch jüngere ZuschauerInnen leicht Zugang zur Handlung finden, weil sie sich mit den Figuren der Kinder in Ihren Filmen identifizieren können und weil alle Altersgruppen gerne Tiere anschauen. (Dabei haben Ihre Werke erstmal nichts mit Family Entertainment zu tun.) Ist Ihnen das Ziel des „Familienfilms“, d.h. auch des gemeinsamen Guckens mehrerer Generationen wichtig? Oder ist die Familie eher als Repräsentanz für die Gesellschaft insgesamt als quasi kleinste Zelle innerhalb eines größeren Körpers von Gemeinschaft zu verstehen?
Beides. Der Anfang des Menschseins beginnt in der Familie. Erst später werden wir für die Eingliederung in die Gesellschaft durch andere gezügelt; doch bis dahin sind die Weichen des Bewusstseins schon gestellt. Wenn Familien, wenn alle Altersgruppen den Film gemeinsam schauen, ist mein Ziel erreicht. Denn es ist mir wichtig, dass der generationsübergreifende Dialog stattfindet und die ältere Generation sich selbst durch ihre Kinder reflektiert. Deshalb spielen in all meinen Filmen Kinder die herausragenden Rollen. Ich will Hoffnung säen. Die Veränderung der Welt kann nur über Kinder passieren und von ihnen kommen, von ihrem Mut, Witz und Tatendrang. Aber auch wir Erwachsenen haben Verantwortung. Nachhaltig positive Veränderungen können nur im Dialog zwischen der strukturgebenden mittleren und der erfahrenen alten Generation entstehen.
Meine Filme erzählen davon, dass man das aus der althergebrachten Tradition nimmt und weiterträgt, was gut ist. Und es mit dem Neuen verknüpft. Das bedeutet für mich Fortschritt. Ich bin nicht gegen Fortschritt. Deshalb landet der Junge in meinem ersten Film am Ende vor einem Fernsehgerät und Amra hier spielt mit seinen Freunden natürlich genauso mit dem Handy wie alle Kinder im Westen.
Wie wichtig sind Ihnen die Rollen in der Familie in Ihren vorherigen Filmen und auch hier, in DIE ADERN DER WELT? Wer steht wofür? Dass Frauen und Männer gleichermaßen arbeiten, Verantwortung tragen und Fürsorge zeigen und dafür Respekt und Achtung erhalten, ist offenkundig. Aber wie wichtig sind für Ihre Filmstories noch individuelle Rollenverständnisse, wie sie vielleicht Ihre Kultur oder auch das Leben im Einklang mit der Natur nötig und wichtig machten und noch machen?
Die Rollenverhältnisse in der klassischen mongolischen Nomadenfamilie sind anders als hier in Europa. Die Mutter hat die wirtschaftliche Hoheit in der Jurte, während der Mann eher außerhalb der Jurte seinen Schwerpunkt hat. In den meisten Kulturen spielen Frauen eine eher untergeordnete Rolle, während mongolische Frauen sich, neben der wirtschaftlichen Oberhand, um die Kinder und den Einklang mit der Natur gleichermaßen kümmern. Dieses Nebeneinander hat sich leider im jetzigen Ulaanbaatar aufgelöst. Dort sind Männer an der Macht und das Ergebnis ist offensichtlich.
Wie verändert sich im Alltag dieses Nomadenleben durch die massiven industriellen Eingriffe in den Lebensraum damals und heute? Können Sie da etwas aus Ihren Erfahrungen bzw. denen Ihrer Großeltern erzählen, die noch Nomaden waren?
In der Archaik des nomadischen Lebens ist der Zusammenhalt und das Geben und Nehmen zwischen den Generationen lebensnotwendig. Eine Notwendigkeit, die in unserer Gesellschaft hier (in Europa) auf materieller Ebene immer weiter in den Hintergrund tritt. Hierdurch verebbt allerdings auch das generationsübergreifende gesellschaftliche Lernen. So hat die nomadische Gesellschaft das Leben im Einklang mit der Natur und den Nachbarn über die Jahrtausende optimiert. Nomaden sind – entgegen unserem europäischen Verständnis – die eigentlich Sesshaften: Sie haben vier regelmäßige Orte für ihre Jurten und Herden – vier Orte für die vier unterschiedlichen Jahreszeiten. Wenn eine Nomadenfamilie ihre Stätte verlässt und weiterzieht, ist schon nach kurzer Zeit keine Spur von ihnen mehr an dieser Stätte zu finden. Das ist Respekt gegenüber der Natur und gegenüber den nachfolgenden Nomaden. Nomadenleben ist Teamwork. Wir können lernen davon, wie das Miteinander funktioniert.
Auch werden Fremde als Erweiterung, als Wissensbringer und Mehrwert und nicht als Konkurrenz gesehen. Eine Lebensweise, die ich in unserer westlichen Gesellschaft oft vermisse. So scheint es hier im Westen, dass nach dem Ableben einer Generation auch große Teile ihrer gesellschaftlichen Erfahrung erlöschen. Durch die kleiner werdende Welt ist diese Entwicklung mittlerweile auch in Ulaanbaatar angekommen und weitet sich auf die Steppe aus.
Zu all Ihren Filmen und offenbar auch zum Leben in der Mongolei gehört Musik, gehören ganz bestimmte Songs. Sie haben in einem anderen Interview mal gesagt: „Uns liegt das Singen im Blut, es wird uns durch die Natur und das Leben in der Steppe vorgegeben. (...) Vielleicht ist das Singen für uns eine Überlebensform, eine Taktik, um in der Steppe existieren zu können.“
Singen und Geschichtenerzählen war in der Mongolei nicht nur Volkssport Nummer Eins, sondern auch ein wichtiges Wissens- und Informationsmittel. Sagen und Lieder sind seit jeher ein Rückgrat der gesellschaftlichen Rituale und Regeln. Jedes Kind kennt die Geschichte von Dschingis Khan und seiner Mutter, die ihm zeigte, dass ein Pfeil leicht zu brechen ist, aber mehrere Pfeile zusammengehalten nicht durchbrochen werden können. Für fast alle Situationen gab es so eine Sage oder ein Lied. Sie waren die Parabeln der Mongolei. Heutzutage hat sich das Leben der Mongolen vor allem in der Stadt gewandelt. Viele leben in kleinen Wohnungen mit vier engstehenden Wänden. Doch für fast alle ist der Gang zu einer der vielen Karaoke Bars ein wöchentliches Muss. So wie inzwischen auch Handys in jeder Jurte üblich sind. Es gibt übrigens auch überall besten Empfang.
Die Produzenten erzählten vom Casting, dass bei den mongolischen Nomaden jedes Kind ganz selbstverständlich Reiten und Singen kann. Das hört sich so an, dass in der Mongolei – anders als in der westlichen Kultur – Natur und Kultur eins sind und von Kindesbeinen an selbstverständlich.
Ja, das stimmt. Der Obertongesang ist die Urform der Lieder. Er entstand aus der Nachahmung von Tiergeräuschen und ist für mich die Ausdrucksform, die am besten die Nähe der Mongolen zur Natur verdeutlicht. Genauso nah sind die Kids aber auch an Handyspielen und eben auch an Mongolia’s Got Talent, wie ich es im Film erzähle. Dies steht im Alltag gleichermaßen nebeneinander: die Tradition und die neuen Medien.
In DIE ADERN DER WELT spielt auch ein Song für den Jungen Amra eine große Rolle: ADERN AUS GOLD. Wo haben Sie diesen Song gefunden und ist er auch heute noch in der mongolischen Kultur bekannt?
Nein, den Song gab es so noch nicht. Dieser Teil ist Fiktion. Ausgangspunkt für unseren Film war eine Lebensweisheit, die ich seit langer Zeit kenne: „Wenn die letzte Ader Gold aus der Erde gezogen ist, wird diese zu Staub zerfallen.“ Wir haben im Vorfeld des Drehs daher den mongolischen Schamanen und Komponisten Lkhagvasuren gebeten, aus diesem mythischen Glaubenssatz eine Art Ode zu schreiben. Er hat sich dann für zwei Wochen an einen See zurückgezogen, um das Lied der „Adern aus Gold“ zu komponieren und zu dichten. Selbst für Mongolen, die dieses Lied hörten, war es, als ob es das Lied schon immer geben würde. Dieser Gedanke gefiel mir, der alten Lebensweisheit so durch den Film die Ehre zu geben und eine übliche reale Tradition – das Singen – auch fiktional zu würdigen. In Amras Auftritt bei Mongolia’s Got Talent treffen sich Tradition und mediale Gegenwart. Gleichzeitig möchte ich aber nicht etwas Düsteres als Vision bestätigen wie den Inhalt des Satzes von den Adern der Welt. Vielmehr will ich durch die Hauptfigur eines Kindes und durch diesen Film als Familienfilm Hoffnung wecken für die Rettung meiner Heimat.
FILMOGRAFIE
2020 DIE ADERN DER WELT
2017 MEINE MONGOLEI (Multivision)
2008/09 DAS LIED VON DEN ZWEI PFERDEN
2005 DIE HÖHLE DES GELBEN HUNDES
2003 DIE GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL
Foto:
©Verleih
Info:
Regisseurin und Drehbuchautorin Byambasuren Davaa (DIE HÖHLE DES GELBEN HUNDES, DAS LIED VON DEN ZWEI PFERDEN) feiert mit DIE ADERN DER WELT ihr Spielfilmdebüt, einer berührenden, generationenübergreifenden und bildgewaltigen Familiengeschichte. Mit ihrem Film DIE GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL, der in über 60 Länder verkauft wurde, war sie bereits 2005 für einen Oscar nominiert. DIE ADERN DER WELT ist eine BASIS BERLIN Filmproduktion in Ko-Produktion mit Mongol TV und Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit Arte. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Filmförderungsanstalt und Deutscher Filmförderfonds. DIE ADERN DER WELT feierte seine Weltpremiere in der Sektion GENERATION Kplus auf der Berlinale 2020.
STARTMELDUNG DIE ADERN DER WELT
(Internationaler Titel: Veins of the World )
Regie: Byambasuren Davaa
Darsteller: Bat-Ireedui Batmunkh, Enerel Tumen, Yalalt Namsrai, Algirchamin Baatarsuren u.a. Deutschland / Mongolei 2019 / 95 Minuten
Wie sind Ihre Erfahrungen mit den Reaktionen der ZuschauerInnen auf Ihre bisherige Arbeit?
Nach Vorführungen meiner Filme oder im Anschluss an meine Fotovorträge kommen oft Menschen zu mir, die mir von ihrer Sehnsucht nach dem Leben in und mit der Natur und der Einfachheit und Überschaubarkeit des Lebens erzählen. Ein Gefühl, das sie in meinen Erzählungen gespiegelt sehen. Auch ich teile häufig diese Sehnsucht nach dem, was das Nomadenleben ausmacht. Umso bizarrer ist es dann, dass so viele Menschen in der Mongolei von einem Leben wie hier in Deutschland träumen.
Was wäre Ihr größter Wunsch als Reaktion auf Ihre Filme und speziell auf DIE ADERN DER WELT?
In den letzten 25 Jahren hat das Thema Bodenschätze das Land tief gespalten. Teilweise ist von globalen Mächten gewollt, dass wir ein reiner Rohstofflieferant bleiben, statt uns selbst weiterzuentwickeln.
Mein Blick von außen auf meine Heimat soll die Menschen in der Mongolei wachrütteln, dass sie ihr Land nicht der Verwüstung preisgeben. Ich wünsche mir, dass in der Mongolei das Bewusstsein wächst, dass wir mehr sind als ein billiger Rohstofflieferant. Die Mongolei kann der Welt in der heutigen ökologischen Krise Wissen und Achtsamkeit gegenüber der Natur vermitteln. Für mein Land wünsche ich mir darüber hinaus, dass wir unsere wirtschaftliche und industrielle Wertschöpfung in diesem Geist zum Gedeihen bringen. Für die Zuschauer anderswo erhoffe ich mir, dass sie die Schönheit meiner Heimat kennen und lieben lernen, um mehr Achtsamkeit für den Umgang mit den Schätzen anderer Länder zu gewinnen. Es ist dringend an der Zeit zu sehen: Es geht etwas unwiederbringlich kaputt an unserer Erde.
Der Bergbau, insbesondere das Goldschürfen in der Mongolei, steht exemplarisch für die Verletzungen durch die Industrie an der Natur und am Lebensraum von Menschen. Das zeigt auch Sebastiao Salgado mit seinen Fotos aus Brasilien, weshalb man seine Bilder auch ‚sozialdokumentarisch‘ genannt hat. Ihre Filme changieren immer zwischen Fiktion und Dokumentarischem. Wie würden Sie selbst Ihre Arbeit beschreiben?
Als Kind hat es mich immer fasziniert, wie in der Wüste Gobi ein kleines Sandkorn die Welt als Fata Morgana spiegeln kann. Ich meinen Filmen versuche ich, ähnlich dem Sandkorn, die Welt in der kleinsten menschlichen Einheit, der Familie, zu spiegeln.
DIE ADERN DER WELT ist eine Fiktion auf einem dokumentarischen Hintergrund. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Wir haben mit Schauspielern gearbeitet, aber keine unserer Filmumgebungen außen war für den Film gebaut. Sie war einfach genauso da in der Realität: Wir drehten mittendrin im Schürfland. Der Baum im Film auf dem Hügel steht genau auf der Grenze zwischen noch nicht lizensiertem Gebiet und Schürfgebiet. Wir planten für manche Szenen eigentlich VFX-Anteile, die wir dann gar nicht brauchten, weil z.B. die Goldschürfer schon viel näher gerückt waren, als wir dachten. Das ist ein großes Glück für mich als Filmemacherin, aber eine große Tragödie für mich als Mongolin. Denn es geht ja nicht nur um Landraub und -zerstörung. Es geht um Traditions- und Kulturraub: Es wird Kultur- und Naturwissen zerstört, wenn die Lebensräume zerstört werden.
Nochmal zu Ihrem Satz vom Sandkorn und der Familie: All Ihre Filme handeln von Familien und deren Ritualen und Traditionen. Sie sind im besten Sinne Familienfilme, weil auch jüngere ZuschauerInnen leicht Zugang zur Handlung finden, weil sie sich mit den Figuren der Kinder in Ihren Filmen identifizieren können und weil alle Altersgruppen gerne Tiere anschauen. (Dabei haben Ihre Werke erstmal nichts mit Family Entertainment zu tun.) Ist Ihnen das Ziel des „Familienfilms“, d.h. auch des gemeinsamen Guckens mehrerer Generationen wichtig? Oder ist die Familie eher als Repräsentanz für die Gesellschaft insgesamt als quasi kleinste Zelle innerhalb eines größeren Körpers von Gemeinschaft zu verstehen?
Beides. Der Anfang des Menschseins beginnt in der Familie. Erst später werden wir für die Eingliederung in die Gesellschaft durch andere gezügelt; doch bis dahin sind die Weichen des Bewusstseins schon gestellt. Wenn Familien, wenn alle Altersgruppen den Film gemeinsam schauen, ist mein Ziel erreicht. Denn es ist mir wichtig, dass der generationsübergreifende Dialog stattfindet und die ältere Generation sich selbst durch ihre Kinder reflektiert. Deshalb spielen in all meinen Filmen Kinder die herausragenden Rollen. Ich will Hoffnung säen. Die Veränderung der Welt kann nur über Kinder passieren und von ihnen kommen, von ihrem Mut, Witz und Tatendrang. Aber auch wir Erwachsenen haben Verantwortung. Nachhaltig positive Veränderungen können nur im Dialog zwischen der strukturgebenden mittleren und der erfahrenen alten Generation entstehen.
Meine Filme erzählen davon, dass man das aus der althergebrachten Tradition nimmt und weiterträgt, was gut ist. Und es mit dem Neuen verknüpft. Das bedeutet für mich Fortschritt. Ich bin nicht gegen Fortschritt. Deshalb landet der Junge in meinem ersten Film am Ende vor einem Fernsehgerät und Amra hier spielt mit seinen Freunden natürlich genauso mit dem Handy wie alle Kinder im Westen.
Wie wichtig sind Ihnen die Rollen in der Familie in Ihren vorherigen Filmen und auch hier, in DIE ADERN DER WELT? Wer steht wofür? Dass Frauen und Männer gleichermaßen arbeiten, Verantwortung tragen und Fürsorge zeigen und dafür Respekt und Achtung erhalten, ist offenkundig. Aber wie wichtig sind für Ihre Filmstories noch individuelle Rollenverständnisse, wie sie vielleicht Ihre Kultur oder auch das Leben im Einklang mit der Natur nötig und wichtig machten und noch machen?
Die Rollenverhältnisse in der klassischen mongolischen Nomadenfamilie sind anders als hier in Europa. Die Mutter hat die wirtschaftliche Hoheit in der Jurte, während der Mann eher außerhalb der Jurte seinen Schwerpunkt hat. In den meisten Kulturen spielen Frauen eine eher untergeordnete Rolle, während mongolische Frauen sich, neben der wirtschaftlichen Oberhand, um die Kinder und den Einklang mit der Natur gleichermaßen kümmern. Dieses Nebeneinander hat sich leider im jetzigen Ulaanbaatar aufgelöst. Dort sind Männer an der Macht und das Ergebnis ist offensichtlich.
Wie verändert sich im Alltag dieses Nomadenleben durch die massiven industriellen Eingriffe in den Lebensraum damals und heute? Können Sie da etwas aus Ihren Erfahrungen bzw. denen Ihrer Großeltern erzählen, die noch Nomaden waren?
In der Archaik des nomadischen Lebens ist der Zusammenhalt und das Geben und Nehmen zwischen den Generationen lebensnotwendig. Eine Notwendigkeit, die in unserer Gesellschaft hier (in Europa) auf materieller Ebene immer weiter in den Hintergrund tritt. Hierdurch verebbt allerdings auch das generationsübergreifende gesellschaftliche Lernen. So hat die nomadische Gesellschaft das Leben im Einklang mit der Natur und den Nachbarn über die Jahrtausende optimiert. Nomaden sind – entgegen unserem europäischen Verständnis – die eigentlich Sesshaften: Sie haben vier regelmäßige Orte für ihre Jurten und Herden – vier Orte für die vier unterschiedlichen Jahreszeiten. Wenn eine Nomadenfamilie ihre Stätte verlässt und weiterzieht, ist schon nach kurzer Zeit keine Spur von ihnen mehr an dieser Stätte zu finden. Das ist Respekt gegenüber der Natur und gegenüber den nachfolgenden Nomaden. Nomadenleben ist Teamwork. Wir können lernen davon, wie das Miteinander funktioniert.
Auch werden Fremde als Erweiterung, als Wissensbringer und Mehrwert und nicht als Konkurrenz gesehen. Eine Lebensweise, die ich in unserer westlichen Gesellschaft oft vermisse. So scheint es hier im Westen, dass nach dem Ableben einer Generation auch große Teile ihrer gesellschaftlichen Erfahrung erlöschen. Durch die kleiner werdende Welt ist diese Entwicklung mittlerweile auch in Ulaanbaatar angekommen und weitet sich auf die Steppe aus.
Zu all Ihren Filmen und offenbar auch zum Leben in der Mongolei gehört Musik, gehören ganz bestimmte Songs. Sie haben in einem anderen Interview mal gesagt: „Uns liegt das Singen im Blut, es wird uns durch die Natur und das Leben in der Steppe vorgegeben. (...) Vielleicht ist das Singen für uns eine Überlebensform, eine Taktik, um in der Steppe existieren zu können.“
Singen und Geschichtenerzählen war in der Mongolei nicht nur Volkssport Nummer Eins, sondern auch ein wichtiges Wissens- und Informationsmittel. Sagen und Lieder sind seit jeher ein Rückgrat der gesellschaftlichen Rituale und Regeln. Jedes Kind kennt die Geschichte von Dschingis Khan und seiner Mutter, die ihm zeigte, dass ein Pfeil leicht zu brechen ist, aber mehrere Pfeile zusammengehalten nicht durchbrochen werden können. Für fast alle Situationen gab es so eine Sage oder ein Lied. Sie waren die Parabeln der Mongolei. Heutzutage hat sich das Leben der Mongolen vor allem in der Stadt gewandelt. Viele leben in kleinen Wohnungen mit vier engstehenden Wänden. Doch für fast alle ist der Gang zu einer der vielen Karaoke Bars ein wöchentliches Muss. So wie inzwischen auch Handys in jeder Jurte üblich sind. Es gibt übrigens auch überall besten Empfang.
Die Produzenten erzählten vom Casting, dass bei den mongolischen Nomaden jedes Kind ganz selbstverständlich Reiten und Singen kann. Das hört sich so an, dass in der Mongolei – anders als in der westlichen Kultur – Natur und Kultur eins sind und von Kindesbeinen an selbstverständlich.
Ja, das stimmt. Der Obertongesang ist die Urform der Lieder. Er entstand aus der Nachahmung von Tiergeräuschen und ist für mich die Ausdrucksform, die am besten die Nähe der Mongolen zur Natur verdeutlicht. Genauso nah sind die Kids aber auch an Handyspielen und eben auch an Mongolia’s Got Talent, wie ich es im Film erzähle. Dies steht im Alltag gleichermaßen nebeneinander: die Tradition und die neuen Medien.
In DIE ADERN DER WELT spielt auch ein Song für den Jungen Amra eine große Rolle: ADERN AUS GOLD. Wo haben Sie diesen Song gefunden und ist er auch heute noch in der mongolischen Kultur bekannt?
Nein, den Song gab es so noch nicht. Dieser Teil ist Fiktion. Ausgangspunkt für unseren Film war eine Lebensweisheit, die ich seit langer Zeit kenne: „Wenn die letzte Ader Gold aus der Erde gezogen ist, wird diese zu Staub zerfallen.“ Wir haben im Vorfeld des Drehs daher den mongolischen Schamanen und Komponisten Lkhagvasuren gebeten, aus diesem mythischen Glaubenssatz eine Art Ode zu schreiben. Er hat sich dann für zwei Wochen an einen See zurückgezogen, um das Lied der „Adern aus Gold“ zu komponieren und zu dichten. Selbst für Mongolen, die dieses Lied hörten, war es, als ob es das Lied schon immer geben würde. Dieser Gedanke gefiel mir, der alten Lebensweisheit so durch den Film die Ehre zu geben und eine übliche reale Tradition – das Singen – auch fiktional zu würdigen. In Amras Auftritt bei Mongolia’s Got Talent treffen sich Tradition und mediale Gegenwart. Gleichzeitig möchte ich aber nicht etwas Düsteres als Vision bestätigen wie den Inhalt des Satzes von den Adern der Welt. Vielmehr will ich durch die Hauptfigur eines Kindes und durch diesen Film als Familienfilm Hoffnung wecken für die Rettung meiner Heimat.
FILMOGRAFIE
2020 DIE ADERN DER WELT
2017 MEINE MONGOLEI (Multivision)
2008/09 DAS LIED VON DEN ZWEI PFERDEN
2005 DIE HÖHLE DES GELBEN HUNDES
2003 DIE GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL
Foto:
©Verleih
Info:
Regisseurin und Drehbuchautorin Byambasuren Davaa (DIE HÖHLE DES GELBEN HUNDES, DAS LIED VON DEN ZWEI PFERDEN) feiert mit DIE ADERN DER WELT ihr Spielfilmdebüt, einer berührenden, generationenübergreifenden und bildgewaltigen Familiengeschichte. Mit ihrem Film DIE GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL, der in über 60 Länder verkauft wurde, war sie bereits 2005 für einen Oscar nominiert. DIE ADERN DER WELT ist eine BASIS BERLIN Filmproduktion in Ko-Produktion mit Mongol TV und Rundfunk Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit mit Arte. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Filmförderungsanstalt und Deutscher Filmförderfonds. DIE ADERN DER WELT feierte seine Weltpremiere in der Sektion GENERATION Kplus auf der Berlinale 2020.
STARTMELDUNG DIE ADERN DER WELT
(Internationaler Titel: Veins of the World )
Regie: Byambasuren Davaa
Darsteller: Bat-Ireedui Batmunkh, Enerel Tumen, Yalalt Namsrai, Algirchamin Baatarsuren u.a. Deutschland / Mongolei 2019 / 95 Minuten