walchenseeNACHTRAG. Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. Oktober 2021, Teil 6

Holger Twele

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eines der großen wiederkehrenden Themen des Films die Suche nach der eigenen Identität, wozu unweigerlich auch die Suche nach der eigenen Herkunft gehört. Manchmal gilt es, einem lange gehüteten Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen, mitunter werden der abwesende Vater oder auch die Mutter gesucht oder imaginiert, häufig sind die älteren Generationen eingebunden. Fiktional lassen sich solche Geschichten leichter erzählen, weil sie etwas mehr emotionale Distanz ermöglichen.

Umso bemerkenswerter ist der inzwischen mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm der Absolventin an der Münchner Filmhochschule, Sängerin und Regisseurin Janna Ji Wonders, die zwar in Kalifornien geboren wurde, deren familiäre Wurzeln aber untrennbar mit dem in Bayern gelegenen Walchensee verbunden sind.

In ihrem emotional fesselnden Film spannt sie mit sich selbst als Dreh- und Angelpunkt einen Bogen über fünf Generationen hinweg von ihren Urgroßeltern bis zu ihrer kleinen Tochter, wobei der Fokus ganz auf den Frauen liegt, die Männer aber deutliche Spuren hinterlassen haben. Die Spurensuche der Regisseurin nach dem, was sie selbst geprägt hat und was sie ihrer Tochter nicht unreflektiert einfach weitergeben möchte, konzentriert sich auf Interviews mit der eigenen Mutter, auf zahlreiche hinterlassene Schriftstücke und Briefe, die vor der Kamera zitiert werden und auf einen reichen Fundus von Fotografien und Filmen über die Familie. Denn Film- und Fotokameras und ihr nahezu selbstverständlicher und alltäglicher Umgang damit haben in der Familie eine lange Tradition, die von Janna Ji Wonders bereits im zarten Kindesalter aufgegriffen und gepflegt wird.

Was ihre Familiensaga über die rein persönliche und für sich gesehen schon bemerkenswerte, vielleicht sogar beispielgebende Familiengeschichte weit hinaushebt, ist die Einbettung dieser Geschichte in die jeweiligen gesellschaftlichen und psychosozialen Rahmenbedingungen der letzten hundert Jahre. Nicht zuletzt ist es auch der Umstand, dass Jannas Mutter und deren früh verstorbene Schwester seinerzeit eng mit der Münchner Kommune um Rainer Langhans verbunden waren, der als alter Mann im Bett liegend für den Film ebenfalls interviewt wird, genauso wie die Mitkommunardin Jutta Winckelmann kurz vor ihrem Tod.

Der Walchensee, der mit stimmungsvollen pittoresken Naturbildern stets präsent bleibt und mit einem aufziehenden Unwetter auch schon mal dafür sorgt, dass die Dreharbeiten in der Wohnung abgebrochen werden, war für die Mitglieder der Familie stets ein Ort der Zuflucht und Geborgenheit, zugleich aber ein unsichtbares Gefängnis, dem man immer wieder zu entkommen suchte, jedoch mit zeitlich begrenztem Erfolg.

1920 ziehen Jannas Urgroßeltern zusammen mit ihrer erstgeborenen Tochter Norma an den See, um dort ein Ausflugscafé zu eröffnen. Die Zweitgeborene war an der Spanischen Grippe gestorben und man wollte durch den Umzug vom Schliersee zum Walchensee auch einen Tapetenwechsel schaffen, um die schlechten Erinnerungen hinter sich zu lassen. Urgroßmutter Ada hat klare Vorstellungen darüber, was eine tüchtige Geschäftsfrau auszeichnet, und diese strikten Regeln bekommt auch ihre Tochter zu spüren, die fast ihr ganzes Leben lang in der Küche stehen wird und schon früh verinnerlicht hat, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Von ihrem Mann wird sie später verlassen, einem Künstler, nachdem er sie vor die Wahl gestellt hatte, sich für ihn oder die gestrenge Mutter zu entscheiden. Norma muss fortan ihre beiden Töchter Anna und Frauke alleine aufziehen und obendrein noch das Lokal am Laufen halten. Weitere Schicksalsschläge bleiben ihr nicht erspart, denn ihre Töchter werden in den 60ern zwar als jodelndes Gesangsduo weltberühmt und später in München zu öffentlichkeitswirksamen Geliebten des Kommunarden Rainer Langhans, doch Frauke stirbt nach Drogenerfahrungen und einem Psychiatrieaufenthalt unter ungeklärten Umständen, die sich als Selbstmord interpretieren lassen.

Dieses Ereignis verändert auch das Leben von Anna, die lange Zeit benötigt, sich in ihrem eigenen Leben zurechtzufinden. Im Unterschied zu ihrer Schwester dachte sie nie an die Gründung einer Familie, konzentriert sich dann aber auf Rainer Langhans und bekam später in den USA mit einem anderen Mann eine Tochter, nämlich Janna Ji Wonders. Die wächst zwischen Kalifornien und dem Walchensee hin- und hergerissen auf und findet in ihrer Großmutter Norma offenbar den seelischen Halt, der den Frauen in der Familie bisher immer gefehlt hatte oder abhanden gekommen war. Das liebevolle Verhältnis zwischen Janna und Norma, die erst im hohen Alter von 105 Jahren stirbt, durchzieht den Film wie ein zweiter roter Faden und bezeugt einen bewundernswert gelungenen Dialog zwischen den Generationen über die mittlere Generation hinweg: „Oma war immer da!“ Darüber hinaus ist der Film auch ein moderner Heimatfilm, der aber nichts beschönigt, sondern den Dingen auf den Grund geht, selbst wenn dennoch große Lücken bleiben und es dem Publikum überlassen ist, diese mit Vermutungen oder eigenen Erfahrungen zu füllen. Ein großartiger Film über das Erinnern und Vergessen, über Vergänglichkeit und das, was bleibt und Bestand hat – und über eine außergewöhnliche Familie, die am Ende nur deswegen so ungewöhnlich ist, weil sie sich mit der Vergangenheit aussöhnen möchte, oder wie es Norma lapidar ausdrückt: „So isses halt!“


Foto:
© Flare Film

Info:
Walchensee Forever
Deutschland 2020, 110 Min.
Regie Janna Ji Wonders
Verleih farbfilm verleih
Kamera Janna Ji Wonders, Sven Zellner, Anna Werner

Mitwirkende:
Norma Werner, Anna Werner. Frauke Werner, Janna Ji Wonders, Jazon Wonders, Jutta Winkelmann, Rainer Langhans u. a.