Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. Dezember 2021, Teil 5
Hanswerner Kruse
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Film „Monte Vertità - der Rausch der Freiheit“, dessen Start mehrfach verschoben wurde, kommt jetzt in die Kinos. Aus der Sicht einer feinen Dame der österreichischen Oberschicht zeigt er das Leben europäischer Aussteiger in der Südschweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Spät abends erreicht die aus der Wiener Gesellschaft geflohene Hanna Leitner (Maresi Riegner) den „Monte Verità“. Verunsichert steht sie des Morgens auf dem südschweizer Berg und sieht nackte, schreiende Menschen herumtanzen. Beklommen will sie wieder abreisen, doch ihr Arzt Otto Gross (Max Hubacher) bittet um Geduld: „Gib dem Berg Zeit.“
Bei dem Freud-Schüler, der plötzlich in Wien abreisen musste, war Hanna in Behandlung, weil sie an den Zwängen der Wiener Gesellschaft zu ersticken drohte. Nachdem ihr Gatte sie nach einem Asthmaanfall anherrschte: „Hör auf mit dem Geröchel“, prügelte und vergewaltigte, floh sie in die Schweiz. Vorübergehend wollte sie ihre zwei geliebten Töchter verlassen und bei dem Mediziner Gross die - wie man heute sagen würde - psychosomatische Therapie fortsetzen.
Manchmal fühlt sich die junge Frau unter den bunt gewürfelten Menschen auf dem Berg geborgen, oft aber schreckt sie vor deren seltsamen Verhaltensweisen - freie Liebe, nackt tanzen, sich vegetarisch ernähren - zurück und wird von Schuldgefühlen gegenüber ihren Mädchen zerrissen. Häufig kann sie das seltsame Gebaren der exzentrischen Gestalten nicht als Therapie kapieren, denkt „das ist doch „alles Theater.“ Jedoch spürt sie hier auch ganz intensiv ihre Freiheit und Möglichkeiten als Frau. Sie lernt den Dichter Hermann Hesse kennen, die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan und andere junge Freigeister.
Als ihr Ausdrucksmittel entdeckt sie die Fotografie, die der Ehemann ihr einst streng untersagte: „Frauen können das nicht.“ Doch auf dem „Monte Verità“ können die Frauen frei und selbstbewusst eine ganze Menge: Ida Hofmann (Julia Jentsch) hilft Hanna sich zurechtzufinden, leidenschaftlich fühlt sie sich der wilden Lotte (Hannah Herzsprung) verbunden, die abseits der Anderen in der Wildnis haust. Doch eines Tages taucht Hannas Mann auf und will sie nach Hause schaffen oder ins Irrenhaus stecken...
Ihre verdichtete Geschichte um 1906 auf dem Monte Verità wird nicht akkurat abgefilmt, sondern mit Rückblenden und Sprüngen erzählt. Aus dem Off spricht Hanna über ihre Gefühle zu den verlassenen Töchtern. Sie ist eine fiktive Figur, man weiß heute nicht, von wem die überlieferten Fotos stammen, doch die weiteren Ereignisse und Personen sind authentisch. Der Streifen verklärt nicht die rebellischen Aussteiger, sondern geht durchaus kritisch mit ihren Schwärmereien und Allüren um.
Durch Hannahs Perspektive wird aus dem Plot ein mitreißender Spielfilm. Die weichen, altmodisch unscharf wirkenden Bilder schaffen bewegende Stimmungen. Riesige intensive Nahaufnahmen ziehen uns in Hannas Wiener Enge oder die offene Welt auf dem Schweizer Berg. Die Naturaufnahmen suggerieren Weite und Freiheit, ohne dass die Landschaft allzu vordergründig wird. Lobenswert ist die sorgsame Charakteristik aller Figuren, Hannas widersprüchliche Entwicklung wird behutsam und überzeugend dargestellt.
Obwohl der sehenswerte Streifen das kaum dokumentierte Leben der Frauen auf dem Monte Verità beleuchtet, wurde er vom männlichen Regisseur Stefan Jäger gedreht. Aus identitärer Sicht ein schweres Sakrileg - doch die Produzentinnen haben den Filmemacher selbst ausgesucht und die meisten Mitglieder der Crew sind Frauen.
Fotos:
(c) tellfilm, Grischa Schmitz DCM
Info:
„Monte Vertità - der Rausch der Freiheit“, Schweiz 2021, 116 Minuten, Filmstart 16.11. 2021
Regie: Stefan Jäger mit Maresi Riegner, Max Hubacher, Julia Jentsch, Hannah Herzsprung u.a.