west2sideSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 2. Dezember 2021, Teil 7

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Film, perfekt gemacht, mit schwelgerischen Melodien zum Mitsingen für die Älteren und ein Film, bei dem ich mich frage, warum ein Steven Spielberg in der heutigen Zeit eine solche gewaltige Filmmaschinerie in Gang setzt. Sicher, das kann man bei den meisten Hollywoodproduktionen fragen, die vieltausendfach von Zuschauern, vor allem von deutschen Zuschauern in den Kinos goutiert werden. Aber von einem Steven Spielberg hätte ich angesichts der Entwicklung und Situation im heutigen Amerika eine filmische Aussage zur heutigen Zeit erwartet und wenn es eine Persiflage a la DER GROßE DIKTATOR (Charly Chaplin) wäre und nicht eine perfekte Konserve.

westside0Genau dieses Gefühl von Konserve hatte ich nämlich beim Zuschauen, bei dem ich mich nicht nur an den alten Film von Robert Wise erinnerte – warum führt man nicht lieber für die heutige Generation diesen auf – und auch an die Verfilmung des Musicals, das vor wenigen Jahren auf der Berlinale gezeigt wurde und gefiel. Der neue Film hat nur einen Anspruch, das Musical, das im Sommer 1957 spielt mit den technischen Mitteln der heutigen Zeit als Überwältigungskino zum Kassenschlager zu machen – und das in Zeiten von Corona, das kommt hinzu. Damals war die WEST SIDE STORY künstlerische Antwort auf die gesellschaftspolitisch zugespitzte Situation in den USA, speziell im Schmelztiegel New York. Dort haben in einem durch bestimmte Straßen genau abgeschlossenen Viertel zwei Jugendbands ihren Kampfplatz, der genau abgetrennt ist und nicht überschritten werden soll. Hinzu kommt, daß dieses Viertel in weiten Teilen abgerissen wurde, weil unter dem Gesichtspunkt der Stadtsanierung damals das Lincoln Center gebaut wurde und auch die Fordham University, also insgesamt ein unwirtliches Leben für diejenige Bevölkerung, die noch blieb, nachdem die meisten vertrieben worden waren. Unter solch miesen Bedingungen blieben gerade die wohnen, die keine Chance für bessere Viertel hatten. Und wie es oft ist, unter schrecklichen Lebensbedingungen, haben sich die Jugendgruppen nicht gegen die kapitalistischen Aggressoren gerichtet und diese gemeinsam bekämpft, sondern haben ihren Frust, ihre Lebens- und Existenzangst, aber auch ihre jugendliche Kraft und Protzerei gegeneinander gerichtet, wurden zu Gegnern, in einem Rivalitätskampf.

westsideDie eine Gruppe rund um San Juan Hill bestand aus Puerto-Ricanern, die seit 1917 staatsbürgerlich US-Amerikaner waren und nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft nach New York gekommen waren. Die andere Gruppe waren Nachkommen der im 19. Jahrhundert in die USA emigrierten Europäer, die sich am Lincoln Square ballten. Die Situation der Vertreibung hat das Drehbuch von Kushner, der grundsätzlich die Story gemäß dem Libretto von Arthur Larents ließ, noch einmal verschärft, vielleicht auch, weil wir heute die Gentrifizierung viel stärker erleben als in der Nachkriegszeit, wo die Zerstörungen unserer Städte ja erst einmal Bauen, Bauen, Bauen zuließ. Er beschreibt „ „weites Ödland voller Schutt, demolierten und teilweise demolierten Mietshäusern, durchzogen von Straßen, bis hinunter zum Hudson River“, den ganzen Abschnitts der Upper West Side.


Kern der Geschichte ist die Melange von politisch-gesellschaftlicher Situation und einer kleinen privaten Geschichte, wo sich zwei junge Menschen, die Jugendlichen Tony (Ansel Elgort) und Maria (Rachel Zegler), ineinander verlieben, die aus den gegensätzlichen Welten kommen: hier die Jets und Sharks aus Puerto Rico. Weshalb der üble Ausgang dieser Liebesgeschichte von Anfang an eingeschrieben ist, das traurige Ende von Beginn an als Zwangsläufigkeit erscheint, so lange man den Grundkonflikt nicht löst.

Im übrigen sind Vermittlungsfiguren neu von Kushner eingeführt, bzw. umgedeutet. Die wichtigste betrifft den netten Drogisten Doc, aus dem eine Frau wird, seine Witwe aus Puerto Rico, die sich um Tony kümmert. Diese Witwe, Rita Morena, ist die Anita des Broadwaymusicals und des alten Spielfilms, die damals gerade aus Puerto Rico in die USA gekommen war. Das ist eine geschickte Verschränkung mit dem alten Film und dessen Weiterführung.

Ich habe mich aufgrund des Films mit dem Ausgangspunkt beschäftigt und mich gefragt, ob der Stoff eine Aktualisierung verträgt und ob er auf die heutigen Konfrontationen verschiedener Bevölkerungsgruppen gegeneinander übertragbar ist. Denn man könnte ja sagen, daß die Wiederauflage der alten Geschichte: hier die schon länger in der Stadt wohnenden Emigranten und die neu hinzugekommenen, die bekämpft werden, unter heutigen Gesichtspunkten die gegnerischen Gruppen klar benennt: das alte weiße, auch weiß-schwarze New York und die neu gekommenen Asienstämmigen oder gar Muslime. Nein, das geht nicht, das paßt nicht. Die gegenwärtige Situation in den USA ist nicht für ein Musical geeignet.

Aber in einem hat mich die Neuauflage des Musicals dann doch überrascht. Ich hätte gedacht, daß sich der damalige gesellschafts-politische Hintergrund der Puerto-Ricaner geändert hätte. Dem ist nur de facto so, daß sie, die in New York leben, also längst normale US-Amerikaner sind. Aber Puerto Rico und die Einwohner der Insel haben nach wie vor eine seltsame Zwitterstellung.

Puerto Rico ist nach wie vor kein eigenständiger US-Bundesstaat. Wenn man dort landet, betritt man zwar amerikanischen Boden und die Einwohner sind alle US-Amerikaner, aber wer auf der Insel lebt, kann sich nicht an den US-Wahlen beteiligen und im Repräsentantenhaus des Kongresses gibt es zwar eine Delegierte, die jedoch kein Stimmrecht hat. Das verwundert dann schon. Aber in New York haben die damaligen Auseinandersetzungen heute keine Grundlage mehr.

Fotos:
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Info:
Titel: West Side Story
Originaltitel: West Side Story
Startdatum: 2021-12-09
Länge (min): 156 FSK: 12
Regie: Steven Spielberg
Darsteller: Ansel Elgort, Rita Moreno, Corey Stoll, Bryan D'Arcy James, Maddie Ziegler