Redaktion
Paris (Weltexpresso) – Mochten Sie die Filme von Leos Carax, bevor Sie sich auf das Abenteuer ANNETTE eingelassen haben?
Ich weiß nicht mehr genau, wie alt ich war, als ich DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF erstmals sah, aber ich kann mich erinnern, dass ich damals schon wusste, dass ich Schauspielerin werden wollte. Ich habe den Film geliebt, seine Anmut, seine Poesie - ich war überwältigt.
Und dann war da natürlich Juliette Binoche, deren Figur, Darstellung und Ausstrahlung mich damals völlig umwarfen. Ich habe mich verliebt in Leos Carax' Kunst, und ich habe im Lauf der Jahre alle seine Filme gesehen, bis hin zu seinem letzten Film, HOLY MOTORS, den ich für ein Meisterwerk halte.
Das Drehbuch von ANNETTE ist eine ganz eigene Angelegenheit, eine Mischung aus traditioneller Erzählung und einem Opernlibretto, begleitet von der Musik der Sparks. Wie war Ihre Reaktion beim ersten Lesen?
Als ich das Drehbuch erhielt, wusste ich bereits, dass der komplette Film gesungen werden und die Erzählung in Lieder aufgeteilt sein würde. Das hatte ausgereicht, um meine Begeisterung zu wecken. Ich musste gar nichts lesen. Ich fühlte mich überglücklich, dass ich die Möglichkeit hatte, bei diesem Stück mitwirken zu dürfen. Und sollten vielleicht noch gewisse Zweifel bestanden haben, so wurden sie bei der Lektüre weggefegt. Mir gefielen sowohl dieses erhebende Element wie auch das opernhafte Musical und die tiefgründige Düsternis, um die sich der Film dreht.
Haben Sie noch gezögert, sich auf diese Reise einzulassen?
Ich wollte sofort mit Leos arbeiten, aber ich war nicht sicher, ob ich all das mitbringen würde, wonach die Figur verlangte. Leos ist ein außergewöhnlicher Filmemacher und dreht nicht allzu oft Filme. Entsprechend erhöht sich der Druck, weil man natürlich fürchtet, ihm als Künstler nicht gewachsen zu sein. Also habe ich noch ein bisschen gezögert. Ich fragte meinen Gesangslehrer, ob ich in kurzer Zeit das lernen können würde, was es brauchte, um dem zu
entsprechen, was von meiner Rolle verlangt wird, obwohl es mir natürlich nicht möglich sein würde, in nur wenigen Wochen eine Opernsängerin zu werden. Wir wussten gleich, dass wir eine Methode für die Opernszenen entwickeln und meine Stimme mit der einer professionellen Sängerin überblenden mussten. Und doch war es eine irrwitzige Herausforderung. Mein Lehrer sagte mir, dass es schwierig werden würde, ich viel Arbeit reinstecken würde müssen, aber dass wir zuversichtlich sein konnten. Ich brauchte seinen Segen, damit ich Ja sagen konnte.
Waren Sie bereits vor dem Projekt mit der Musik der Sparks vertraut? Wie werden Sie von ihr inspiriert?
Ich kannte sie überhaupt nicht! Aber als Teenager liebte ich „Singing in the Shower" von Rita Mitsouko, und später fand ich heraus, dass der Song von den Sparks geschrieben war. Dann traf ich mich mit ihnen, um mich über das Projekt auszutauschen, und war überwältigt von ihrem Einsatz für und Glauben an dem Film. Die Sparks waren von Anfang an ein Teil des Projekts. Es ist auffallend befreiend, wenn man es mit Künstlern zu tun bekommt, die schon so lange an einem Projekt beteiligt sind, deren Leidenschaft es zu verdanken ist, dass es überhaupt realisiert werden kann. Der Film würde gemacht werden, und sie wussten es. Und wir alle teilten die Freude, gemeinsam zu arbeiten, für dieses besondere Projekt, für diese besonderen Künstler.
Wie würden Sie die Musik des Films beschreiben?
Ich finde, es ist eine Oper, auch wenn die Lieder selbst nichts Opernhaftes haben. Mit den Themen, die angesprochen werden, wie auch den sehr lyrischen, paradiesvogelartigen Kompositionen fühlt sich ANNETTE aber an wie eine Oper, wenngleich in einer modernisierten Form.
Was erzählte Ihnen Leos Carax über Ihre Figur, als Sie sich erstmals mit ihm unterhielten? Wie sah er die Rolle? Gab er Ihnen spezifische Anweisungen?
Als wir uns das erste Mal trafen, redeten wir gar nicht so sehr über die Figur oder seine Vision für den Film. In ihm steckt etwas zutiefst Mysteriöses, gleichzeitig ist er sehr geerdet. Wir unterhielten uns fast sofort über die Arbeit, die Technik, das Singen, die Musik. Später schickte er mir eine Menge Referenzen für Ann, die mir halfen. Ein besseres Verständnis für die Figur zu entwickeln. Er ließ mir Videos von Interviews mit Romy Schneider zukommen. Ihre Kombination aus Stärke und Zartheit sprach ihn an. Und er achtete sehr genau auf die Kostüme, die ich als Ann tragen sollte, auf die gesamte Farbpalette. Ann setzte sich als Mensch aus Fleisch und Blut vor meinen Augen zusammen, während wir an ihr arbeiteten.
ANNETTE folgt Ann, einer berühmten Opernsängerin, die sich in einer Beziehung mit dem Stand-up-Comedian Henry befindet, der nach und nach den Verstand zu verlieren beginnt, als seine zunächst so aussichtsreiche Karriere in sich zusammenfällt. Man könnte sagen, dass es ein Film über Zusammenbrüche ist, in mehr als einer Hinsicht. Was hat der Film Ihrer Ansicht nach über Ehe zu erzählen?
Am meisten beeindruckte mich, was der Film über den Einfluss des Egos auf das Eheleben zu sagen hat- wie das Ego auf nachhaltige Weise einerseits Selbsterkenntnis fördert und gleichzeitig Entfremdung von sich selbst auslöst, wie das Verlangen nach Anerkennung - diese Krankheit-alles andere überlagern kann und einen zu einem Monsterwerden lässt, das selbst die zu manipulieren versucht, die ihm am nächsten stehen. Ann und Henry sind beide sehr exponiert. Und wenn zwei Menschen das Bedürfnis nach Anerkennung verspüren und so berühmt werden, dann kann man davon ausgehen, dass es eine Art Wettbewerb geben wird, der an dem Paar nagt, eine Situation, von der man nicht weiß, wie man mit ihr umgehen soll. Das Statement des Films über diese innere Krankheit, die einen von seinen Geliebten entfremdet und womöglich die eigene Zerstörung in die Wege leitet, hat eine ungeheure Wucht.
Der Film ist auch die Reise eines Vaters zu seinem Kind - ein Mann, der versucht, wieder ein Gefühl dafür zu entwickeln, was es bedeutet ein Vater zu sein. Aber der Film macht es so, wie es Carax nun einmal macht, wie in einem Traum, in dem bedeutsame Opernfiguren, Geister, Puppen, Träume und so weiter eine Rolle spielen. Wie sehr sprechen Sie darauf an, wie Leos Carax die Realität und autobiographisches Material transformiert?
Das macht ihn so außergewöhnlich. Er trägt in sich eine besondere Poesie, die es ihm erlaubt, leicht übernatürliche Dinge darzustellen, damit aber ganz pure, ehrliche, tiefgreifende Emotionen zu berühren, wie Menschen erleben, und die etwas aussagen über die Condition humaine, ob es nun die schönen Seiten sind oder die Finsternis. Leos Filme sind sehr so wie er selbst. In ihm steckt eine wahrhaftige Düsternis, aber er bekämpft sie mit seiner standhaften Liebe für alles, was absurd ist und lächerlich. Kein Filmemacher hat das Lächerliche so glorifiziert wie er, er hat etwas Schönes daraus erwachsen lassen. Ich hatte keine vorgefertigte Meinung von ihm, bevor ich mich mit ihm traf. Aber ich konnte mir einfach nicht helfen, ihn einschüchternd zu finden. Er ist der Künstler, den ich als junge Frau so inspirierend fand, der als Sensation gefeiert wurde. Als wir dann redeten, beeindruckte mich sein Sinn für Humor. Leos ist wie ein Kind, das Witze reißt. So hätte ich ihn niemals eingeschätzt. Es gab keinen Tag beim Dreh, an dem er nicht gelächelt hätte, immer bereit, einen Witz zu machen, lustig zu sein. Er ist lebendig mit jeder Faser seines Körpers.
Leos Carax kennt man als fordernden Filmemacher am Set, als treibende kreative Kraft, die ihren Schauspieler*innen so nahekommt, dass sie ihnen förmlich ins Ohr wispert. Haben Sie das auch so erlebt?
Er ist beim Drehen einerseits sehr spezifisch, aber auch sehr auffällig und grell. Er liebt diesen Beruf über alles, er liebt das Set, den Prozess des Filmemachens, die Schauspieler. Und er ist immer respektvoll. Als Schauspielerin ist es wunderbar, sich gesehen zu fühlen, sich unter den Fittichen eines Künstlers zu befinden, der so ist wie man selbst. Mich beeindruckte beim Dreh, wie genau erjedes Detail wahrnimmt und memoriert - wie gut ein Stück Kleidung passt, wie man rüberbringt, was man auszudrücken versucht, solche Dinge. Er war auffällig fokussiert. Und musste es auch sein, weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte, dass alle Lieder live eingesungen werden sollten. Bei den meisten traditionellen Musicals nimmt man die Lieder in der Vorproduktion auf und danach bewegt man beim Dreh nur die Lippen. Aber bei diesem Projekt bestand Leos darauf, dass alles live sein musste. Das machte den nicht ganz einfachen Dreh zu einer noch größeren Herausforderung. Wir sangen in jeder noch so unkonventionellen Position, die einen technisch beim Singen auch beeinträchtigen konnte.
Zum Beispiel beim Rückenschwimmen oder beim Darstellen von Cunnilingus. Aber genau dieser Effekt war es, den Leos sich vorgestellt hatte - er wollte, dass die Stimmen sich der jeweiligen Realität anpassen.
Erzählen Sie mehr über Ihre Herangehensweise beim Singen und an die Musik. Wie haben Sie mit der Sängerin Catherine Trottman gearbeitet, deren Stimme mit der Ihren für die Opernszenen überlagert wurde?
Wir wussten sofort, dass ich die Oper nicht selber singen konnte. Es ist unmöglich, sich das Vibrato einer Sopranistin in nur drei Monaten Ausbildung anzueignen. Also entschieden wir, meine Stimme mit der einer professionellen Sängerin anzureichern, aber wir fanden die Richtige erst, als der Dreh bereits abgeschlossen war. Ich hatte eine wunderbare Zeit mit Catherine Trottman, weil ich mich selbst fühlen dürfte, als wäre ich eine Filmregisseurin. Ich gab ihr Anweisungen, wie sie die Stimme anpassen sollte, worum es bei den einzelnen Liedern ging. Es war sehr kompliziert, einen Teil meiner Darstellung an jemand anderen abzugeben. Aber es war auch extrem inspirierend.
Sie waren noch nie mit Adam Driver vor der Kamera gestanden. In diesem Film kommen seine Kraft und Körperlichkeit sehr beeindruckend rüber - er ist ein düsterer Antiheld. Wie war die Arbeit mit ihm? Wie haben Sie die Gewalt weggesteckt, die ihre Dynamik überlagert?
Adam war von Anfang an bei dem Projekt an Bord, und er stürzte sich mit standhafter Überzeugung in die Arbeit. Erstmals trafen wir uns in New York, in einem Aufnahmestudio, mitten während einer Gesangssession. Er ist ein großartiger Schauspieler, und wir hatten vom ersten Moment an den Eindruck, auf einer Seite zu stehen, demselben Team anzugehören, beide angetrieben von einem ganz besonderen Filmemacher, der uns bei der Hand nahm und in dieses Projekt zog. Der erste Song, den wir an diesem Tag zusammen sangen, war „We Love Each Other So Much“, der in diesem Film die ultimative Liebeserklärung ist. Es ist immer ein bisschen komisch und fordernd, wenn man eine bestehende Beziehung mit dieser Art von sentimentalem Erguss beginnt. Aber Adam und ich hatten gleich einen guten Draht miteinander und konnten viel lachen. Bei einem Dreh sind wir wie große Kinder. Humor half uns dabei, auch die größten Hürden zu nehmen, die sich uns in den Weg stellten. Wir hatten eine wunderbare Dynamik bei diesem Film. Uns gelang es, diese sehr düsteren und destruktiven Figuren zu spielen, und trotzdem immer leicht im Herzen zu bleiben. Das ist auch der Schlüssel zu Leos' Arbeitsweise.
Foto:
©Verleih
Info:
Besetzung & Stab
Henry McHenry. Adam Driver
Ann Desfranoux. Marion Cotillard
The Conductor. Simon Helberg
Annette Devyn McDowell
Sparks. Russell Mael
Sparks Ron Mael
Regie Leos Carax
Drehbuch Ron Mael, Russell Mael, Leos Carax
Originalidee, Musik & Lyrics Ron Mael, Russell Mael
Abdruck aus dem Presseheft