nima1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 20. Januar 2022, Teil 5

Redaktion

Los Angeles (Weltexpresso) – Am Anfang ist Stanton Carlisle buchstäblich ein Niemand, ein Mann, der seine zweifelhafte Vergangenheit hinter sich gelassen hat und so verzweifelt ist, sich von seiner Herkunft zu distanzieren, dass er den Entschluss fasst, sich fahrendem Volk anzuschließen und Mitglied einer Welt zu werden, die sich nur sich selbst verpflichtet ist. Hier werden keine Fragen gestellt und niemand kümmert es, was man früher gemacht hat, solange man sich reinhängt und sich in den Dienst des Zirkus stellt. Stantons Aufstieg innerhalb der Hierarchie in der Zirkustruppe setzt sich fort in die höheren Gefilde der amerikanischen Gesellschaft, während die Große Depression in den USA eine schillernd eindringliche Kulisse abgibt.

Guillermo del Toro schrieb das Drehbuch zusammen mit Kim Morgan, die man als Filmkritikerin und Journalistin mit einem großen Herzen für die Geschichte des Kinos kennt und schätzt. Zufälligerweise waren beide Bewunderer des ursprünglichen Romans. Also begannen sie gemeinsam mit der Recherche des Lebens von William Lindsay Gresham und entdeckten dabei, dass seine Biographie erstaunliche Ähnlichkeiten zu Stanton Carlisles Geschichte aufzeigte. Als Kind entwickelte er eine Faszination für die Zirkusattraktionen in Coney Island, die er sein gesamtes Leben nicht wieder ablegen würde. Während er im Spanischen Bürgerkrieg diente, freundete er sich mit einem anderen Soldaten an, der ihn mit merkwürdigen und anzüglichen Geschichten über seine Zeit beim fahrenden Volk unterhielt. Nach einer Zeit als Redakteur bei True-Crime-Magazinen gab Gresham sein Debüt als Romanschriftsteller mit „Nightmare Alley“, der damit beginnt, dass man als Leser Hals über Kopf in die Welt des Zirkus eintaucht, wo Stanton Carlisle von Pete und Zeena, die Seherin die exzentrischen Schaustellertraditionen erlernt. Und die er für seinen eigene Entwicklung als Gedankenleser und Wahrsager nutzt. Ihm wird bewusst, dass sich ein Vermögen machen lässt, wenn er bei seinen Auftritten wohlhabenden Hinterbliebenen mit falschem Trost das Geld aus den Taschen lockt. Das Buch lässt den Leser die Ereignisse aus dem Blickwinkel von Stanton miterleben, wie er Menschen dazu verführt, ihm Vertrauen zu schenken, während er unfähig ist, seinen eigenen Ängsten zu entfliehen. „Wir waren interessiert daran herauszuarbeiten, dass Menschen – damals wie heute – Spiritualität als Mittel einsetzen, um unschuldige Leute auszunehmen“, sagt del Toro.

2010 wurde der Roman in einem neuen Licht gesehen als einer der Höhepunkte des Noir in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, eine der unterhaltsamsten, abgebrühtesten Betrachtungen der modernen Gesellschaft. In diesem Jahr schrieb der Kritiker Michael Dirda in der Washington Post: „Greshams Buch ist die Chronik eines wirklich schrecklichen Abstiegs in den Abgrund. Und doch ist es mehr als nur ein verruchter Noir-Klassiker. Als Darstellung des menschlichen Befindens ist „Nightmare Alley“ ein unheimliches, allzu erschütterndes Meisterwerk.“

In ihrer Adaption arbeiten Morgan und del Toro außerdem die Geschichten der Frauen stärker heraus. Wir folgen Stanton auf seinem Weg, wie er sich mit jeder von ihnen einlässt. Del Toro führt aus: „Thematisch bin ich sehr daran interessiert, das Genre von einem anderen Blickwinkel aus zu verfolgen. Anstatt einer Femme fatale habe ich drei starke weibliche Figuren und einen Homme fatal.“ Die gerissene Wahrsagerin Zeena (Toni Collette) genießt die körperliche Leidenschaft, die sie bei Stanton findet, und öffnet seine Weltsicht, wie man sich durchschlägt in Amerika. Die entwaffnende Unschuld Molly (Rooney Mara) fällt herein auf seinen täuschenden, bestrebten Optimismus. Und die Großstart-Psychoanalytikerin Dr. Lilith Ritter (Cate Blanchett), selbst eine Überlebende körperlichen und seelischen Missbrauchs, durchschaut Stanton und fast den Beschluss, den Manipulator mit ihren eigenen Manipulationen auszutricksen, um für sich Gerechtigkeit zu finden. Jede von ihnen hilft Stanton dabei, sein Können zu vervollkommnen. Dabei muss jede von ihnen mitverfolgen, wie er an jeder Weggabelung stets den hinterlistigsten Pfad wählt.

Als er erst einmal erkennt, wie profitabel Irreführung und Täuschung sein können, gibt es kein Zurück mehr für Stanton Carlisle. Guillermo del Toro und Kim Morgan sahen das Thema durchaus auch als Reflektion des Amerika der Gegenwart, aber den beiden war es nicht minder wichtig, die Geschichte erkennbar im Amerika nach der Großen Depression anzusiedeln und die Stimmung damals einzufangen. Die Adaption spielt im Jahr 1939, als sich die Nation endlich gerade einmal vom Ersten Weltkrieg erholt hatte und im Begriff war, in den nächsten Weltkrieg einzusteigen, während das Land vor einer dramatischen Spaltung stand. „Diese Zeit war in vielerlei Hinsicht die Geburtsstunde des modernen Amerika“, findet del Toro.

In einer Zeit vor dem Fernsehen war ein Wanderzirkus der Inbegriff von vor Ort erlebter Unterhaltung für die Massen. Die Besucher verwandelten in den Kleinstädten ein matschiges Feld nach dem anderen in einen Ort, wo das Versprechen gegeben wurde, die Besucher zu verblüffen und zu erregen und ein hartes Leben für ein paar Stunden etwas magischer sein zu lassen. So sehr sie dem Publikum auch verlockende Märchen verkaufen mochten, war es doch auch offensichtlich, dass die Akrobaten hinter der frisch aufgetragenen Farbe, dem Flitter und der ungeheuerlichen Behauptungen ausgenutzt und regelrecht entmenschlicht werden konnten. Aber sie waren auch parallele Gemeinden für Menschen, die anderweitig an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden wären.

Del Toro war fasziniert von dieser Welt menschlicher Gegensätze und wollte noch tiefer gehen. „Der Zirkus ist eine unglaublich eng gestrickte, hermetische Gesellschaft. Es ist ein Ort, an dem Menschen ihre Geheimisse für sich behalten können; viele fliehen vor ihrer verbrecherischen Vergangenheit oder anderen Erlebnissen, die sie hinter sich lassen wollen. Und doch bilden sie eine starke Gemeinschaft. Es ist wie ein Mikrokosmos der Welt. Alle sind da, um alle anderen zu beschwindeln. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass sie einander brauchen, und sie beschützen einander.“

Del Toro und Morgan machten sich auch kundig über die Geschichte der „Geek-Shows“, die sich in NIGHTMARE ALLEY als von epischer Bedeutung erweisen. Obwohl sie in vielen Bundesstaaten verboten sind, waren sie im Zirkus oft das größte Zugpferd. Die Wahrheit hinter den Geek-Shows ist indes ausgesprochen beunruhigend. „Es ist wichtig, dass die Handlung des Films recht bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs spielt, denn damals kamen viele Männer aus dem Krieg zurück, die den Schrecken nur mit Abhängigkeit und Sucht überstehen konnten“, erklärt del Toro. „Um sich die Substanzen ihrer Wahl finanzieren zu können, waren manche der Süchtigen bereit, lebendige Tiere zu essen.“

Die Jahrmarkt-Geeks waren in erster Linie Opium-Junkies oder Alkoholiker, die nicht an ihren Stoff herankamen und bereit waren, alles zu machen, um ihren Entzugserscheinungen zu entgehen. In der Hierarchie im Zirkus befand sich der Geek auf der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter, wurde geschmäht und bemitleidet vom Rest des fahrenden Volks. Die größte Angst von Stanton ist es, selbst ein Geek zu sein, herausgeschleift aus finsteren Gassen in tiefster Nacht.

Del Toro und Morgan verließen sich nicht nur auf Greshams bestechende Beschreibungen, um eine elektrisierende Jahrmarktwelt in ihrem Film entstehen zu lassen, sondern bezogen sich auf einen der damals kontroversesten und heute längst als Meisterwerk gefeierten Filme des frühen 20. Jahrhunderts, FREAKS – MISSGESTALTETE („Freaks“, 1932) von Todd Browning. In dem Rachedrama hatte Browning eine Gruppe von realen missgestalteten Karnevalgestalten besetzt – bei der Veröffentlichung löste der Horrorfilm einen Skandal aus, weil er mutig absolut verbotenes Terrain betrat.

„NIGHTMARE ALLEY verneigt sich vor der Bedeutung von FREAKS – MISSGESTALTETE“, sagt Produzent J. Miles Dale. „Browning zeigt, dass man, wenn man hinter den Zirkusvorhang blickt, ganz normale Menschen entdeckt, die sich aufeinander verlassen, einander lieben und Teil einer Familie sein wollen. Das fügt sich eins zu eins in die Weltsicht, die Guillermo del Toros Filme immer schon prägt.“

Für die del Toro ist der Prozess des Geschichtenerzählens nahezu unendlich, und das Drehbuch ist bei ihm niemals der Endpunkt. Typisch für den Filmemacher ist es, den Schauspielern während der Besetzung ausführliche persönliche Biographien ihrer Figuren zu schicken, in denen ihre Kindheitsgeschichte erzählt wird, psychologische Einblicke gegeben und sogar Geheimnisse verraten werden, die die Darsteller niemals weitererzählen sollen.

Foto:
©Verleih

Info:
Regie: Guillermo del Toro
Drehbuch: Guillermo del Toro, Kim Morgan
Basierend auf dem Roman von William Lindsay Gresham
Produziert von Guillermo del Toro, p.g.a., J. Miles Dale, p.g.a., Bradley Cooper, p.g.a.
mit: Bradley Cooper, Cate Blanchett, Toni Collette, Willem Dafoe, Richard Jenkins, Rooney Mara, Ron Perlman, Mary Steenburgen, David Strathairn
Deutscher Kinostart: 20. Januar 2022
Im Verleih von Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

„Ich fand Guillermos Bio-Outtake ungemein großzügig“, erzählt David Strathairn, der als Pete zu sehen ist, der Wahrsager, der Stanton all seine Tricks beibringt und sein gesamtes, über viele Jahre erarbeitetes Wissen anbietet. „Das war eine unterhaltsame Weise, einen Einblick in Guillermos Denke zu bekommen. Als Schauspieler kann man immer nur den Moment spielt, aber die Bio half, gewisse Tonalitäten und Verhaltensweisen zu erarbeiten. Es war, als hielte man eine ganz persönliche Kurzgeschichte über die eigene Figur in Händen.“