IMG 0255Die 72. Berlinale vom 10. bis 20. Februar (3)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Frühmorgens giftet lautstark eine Kollegin im Saal des Berlinale-Palastes, wie „beschissen“ sie den letzten Film gefunden hätte. Der Regisseur könne doch überhaupt keine Charaktere darstellen. Aber noch schlimmer sei„Everything will be ok“ gewesen, der Film des kambodschanisch-französischen Regisseurs Rithy Pan im Wettbewerb: „Der steht auf meiner Shit-Liste ganz unten.“

OK, der düstere nihilistische Film spielt in einer animierten Welt, in der hölzerne Wildschweine die Macht übernommen haben; klar denkt man an Orwells „Animal Farm“. Dazwischen reihen sich, auf experimentelle Art collagierte Szenen von Folter, Hinrichtungen, Morden, Beseitigung von Leichen, Bombenabwürfen, Vergewaltigungen endlos aneinander. Das wird mit kritisch elegischen Gesängen unterlegt. Als auch noch Küken geschreddert und andere Tiere lebendig gequält wurden, bin ich nach einer Dreiviertelstunde gegangen: Ich konnte diese Bilder einfach nicht mehr ertragen, aber natürlich kann, ja soll man solche Filme drehen.

Ich bin fassungslos, so viele Exkremente einer Kollegin am frühen Morgen! Viele Presseleute und ich diskutieren, was hat uns gefallen, was war gut, welcher Streifen könnte den Goldenen Bären gewinnen? Oder wie bescheuert ist es, Silberbären für beste männliche und weibliche Haupt- und Nebendarsteller abzuschaffen. Denn es gibt seit der letzten Berlinale nur noch je einen Preis für die beste Haupt- und Nebendarstellung (wohl wegen der 0,33 % transsexuellen Menschen, die sich nicht zuordnen wollen).

Ich könnte mir gut den - hier bereits besprochenen - Film „Peter von Kant“ für einen großen Preis der Jury vorstellen. Aber mein Goldener Bär ginge (bis jetzt) an „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ vom Regisseur Andreas Dresen, ein Silberner Bär an seine hinreißende Hauptdarstellerin. Erwartet hatte ich ein langweiliges, moralisches Justizdrama und war dann begeistert, wie die authentische Geschichte des zu Unrecht in Guantanamo Inhaftierten Murat erzählt wird.

„Murat, das Frühstück ist fertig“, ruft seine Mutter Rabiye (Meltem Kaptan), „steh auf, sonst schneide ich Dir den Bart ab.“ Aber Murat ist verschwunden, zuletzt wurde er in einer berüchtigten islamistischen Moschee gesehen. „Ich will meinen Murat zurück“, schreit die Mutter den Imam an, aber der will ihn nicht kennen. „Er sieht aber doch aus wie ein Taliban“, frotzelt ihre jüngere Schwester, die beim Suchen hilft. „Und Du wie eine deutsche Friseuse“, kontert Rabiye. Im Kino wird viel gelacht, die Murat-Geschichte fängt humorvoll an und wird fast ausschließlich aus der Perspektive Rabiyes erzählt. Als sie nach Hause kommt, ist ihr kleines Reihenhaus von TV-Leuten und Journalisten umstellt. Am nächsten Tag stehen Zitate von ihr in den Zeitungen, „die isch nie gesacht hab, isch schwör!“

Sie ist Türkin, aber schon so lange in Deutschland, sodass sie auch ziemlich deutsch ist. Den Culture-Clash, der dadurch ständig entsteht, trägt sie in sich. „Fang es wie die Türken an, aber bringe es wie die Deutschen zu Ende“, erzählt sie ihrem Rechtsanwalt (Alexander Scheer), den sie in seinem Anwaltskollektiv überrumpelt hat. Sie ist aufdringlich, naiv und kämpft wild wie eine Löwenmutter für ihren Sohn. Ihr Anwalt ist von ihr fasziniert -  aber auch empört darüber, wie mit Menschenrechten umgegangen wird. Klar, Murat wollte zu den Taliban, kam aber nie dort an, sondern wurde - wie sich später herausstellt - an die US-Amerikaner verkauft, die ihn nach Guantanamo verschleppten.

Mehr wollen wir hier von der Handlung nicht erzählen, die in allen wesentlichen juristischen, politischen und organisatorischen Aspekten authentisch ist. Rabiye war mit dem Anwalt wirklich mehrfach in den USA, sprach mit anderen Eltern oder Angehörigen der 9/11-Opfer.

Mit unglaublicher Energie führt die Schauspielerin uns Zuschauer durch den Film. Sie ist irrsinnig komisch, wir lachen viel, aber es kommen auch uns die Tränen, wenn sie traurig ist oder gelegentlich den Mut verliert. Der Film lebt, neben den großen Zusammenhängen von den vielen kleinen Details: den Streits in der türkischen Familie, Rabiyes abenteuerliche Autofahrten oder kulturellen Missverständnissen.

In der Pressekonferenz wies Andreas Dresen darauf hin, dass die US-Amerikaner Murat bereits nach einem halben Jahr nach Deutschland ausliefern wollten. Doch das verhinderten Frank Walter Steinmeier, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer: Er sei ja nicht mal Deutscher. Erstaunlicherweise engagierte sich Angela Merkel kurz nach ihrem Amtsantritt für Murat und bewirkte seine Freilassung in wenigen Wochen. Dresen, der auch Verfassungsrichter in Brandenburg ist, glaubt an das deutsche Rechtssystem. So seine Antwort auf eine Nachfrage in der Pressekonferenz, aber er verlange wenigstens eine Entschuldigung der verantwortlichen Politiker.

Der sehenswerte - und hoffentlich mit Bären belohnte Film - kommt am 28. April 2022 in die Kinos.

Foto:
(c) Hanswerner Kruse