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Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein so karger, wie unterhaltsamer Film, der tief in Menschen hineinblickt, obwohl wir lange mir der Oberfläche beschäftigt sind – und der endlich wahr macht, was wir uns so lange wünschten und nun genau im falschen Moment in die Kinos kommt: es geht um Rußland, einen Russen und die Russische Eisenbahn nach Murmansk.
Also die Strecke, wo man tagelang und vor allem nächtelang im Zug unterwegs ist, wie Laura (Seidi Haarla), die finnische Archäologiestudentin, die in Moskau Russisch lernen wollte und deren Fundamente als Liebhaberin einer sehr umtriebigen Professorin für Literatur auch erwarb und der wir erst in Moskau begegnen, wo sie sich auf die gemeinsame Reise nach Murmansk zu den sagenhaften Petroglyphen freut. Doch sie muß alleine fahren, die Professorin ist unabkömmlich und allein diese Szenen sind den ganzen Film wert, weil wir so wie in den großen russischen Filmen auf eine Gesellschaft der sogenannten Intelligenzija treffen, die gesellschaftliche Salons führen wie in der guten alten Zeit, als intelligente Leute noch Feste feierten, wie es in Westdeutschland in den 50- und 60zigern noch hieß, bevor Partys daraus wurden, die aber ohne den Esprit und die tiefen Kunst- und Kulturgespräche auskamen, nur reichlich Alkohol, das blieb und das ist auch das Verbindende bei diesem Freundes- und Kollegenkreis, den Laura bestaunt, in dem sie aber nur Außenseiterin bleibt.
Sie wird also von Irina in den Zug gesetzt und in Abteil Nr. 6 sitzt schon ein primitiver junger Russe, mit Fast-Glatze , der sich hinlümmelt und als erstes den Wodka und die Wurst herausholt und bräsig verzehrt. Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen, dem wir schon den subtilen Film „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ verdanken, macht das Gegenteil der Hollywoodfilm(un)kultur der präzise durcherzählten filmischen Geschichte, was zwar immer sehr einfach zu verstehen ist, den Zuschauer aber immer in die Rolle des rein abnehmenden Konsumenten versetzt. Der Finne dagegen mutet uns etwas zu. Wir müssen die Bilder auf der Leinwand erst verstehen lernen, ihren Zusammenhang selber herstellen, wozu erst einmal Unsicherheiten zu überwinden sind.
Mit Lauras Augen sehen wir den ungehobelten Kerl, der Bergarbeiter ist, also ausgerechnet bis Murmansk mitfährt, dieses toxisch brutale männliche Gehabe, das ja bei uns auf Erfahrung trifft, weil es sie gibt, diese jungen Burschen, die nichts anderes gelernt haben, als auf eine Frau wie Laura derb und sexistisch zu reagieren, wie ja auch sie nichts anderes gelernt hat, als gegenüber solchem Typen arrogant und überheblich zu sein. Aber wie die beiden das machen, das ist dann wirklich spannend und immer wieder zum Lachen komisch.
Die Fahrt ist lange und gleich am Anfang will Laura aussteigen, sie ruft – seltsam, daß die Reise von Moskau nach Murmansk über Sankt Petersburg geht? - aus der Stadt der Weißen Nächte Irina an, um zurückzukehren, aber deren lahme Verbindlichkeiten, sie könne nicht zurückkommen und müsse weiterfahren, verlangt die Fortsetzung der Reise, auf der wir die beiden von allen Seiten kennenlernen und sich die beiden auch, aber auch noch andere Personen, wobei sowohl der junge finnische Tourist mit der Klampfe, der klaut, wie auch Ljoha’s Pflegemutter, mit der sie bei einem längeren Halt reden, schweigen, essen und trinken, das Ganze einfach rund machen.
Als beide in Murmansk ankommen, ist alles zugefroren und nichts möglich. Eigentlich. Aber Laura ist stur, sie will die Petroglyphen sehen und Ljoha, den sie aus seiner Baustelle herauslockt, fährt mit ihr die vereiste, eigentlich unfahrbare Strecke, bis sie die Petroglyphen wirklich sehen. Wir Zuschauer sehen eher Lauras Entzücken, denn, wenn an etwas an diesem schönen Film kritikwürdig wäre, dann das man zu wenig über Petroglyphen hört und sieht. Daß sie Felsbilder, also Bilder auf Stein aus prähistorischer Zeit sind, ist Allgemeinwissen. Wir kennen aber landläufig aus dieser Zeit eher Felsmalerei. Doch die Darstellungen auf den Felsen sind in diesen hineingebohrt, geschabt, punktiert, also in den Untergrund in der Tiefe eingeritzt. Problem ist nur, daß die wenigsten wissen, daß dort 1997 die unglaubliche Zahl von rund 1400 prähistorischen Bildern auf Stein gefunden worden, sie wissen es auch deshalb nicht, weil Murmansk auch in der Sowjetunion und dem heutigen Rußland das Ende der Welt bedeutete. Übrigens gibt es auch in Deutschland eingeritzte Steinzeichnungen.
Aber es ist schon richtig, daß es eigentlich nicht um die Feinheiten der Bilder geht, die Laura unbedingt sehen wollte, sondern um ihre Motivation, auch bei solchen Schwierigkeiten die Felsbilder sehen zu müssen, wo doch das eigentliche Ereignis ihre menschliche Begegnung mit Ljoha war und ist. Und es kommt einem vor, daß genau diese Abwägung in Laura angesichts der Bilder stattfindet, die sie ohne den Kumpel und Gefährten nie gesehen hätte.
Nein, es nervt nur kurz, daß Voyage, Voyage durchgängig musikalischen Hintergrund bietet, gerade dann, wenn es eher schwierig auf der Reise wird. Der Film, erhielt den GRAND PRIX auf dem letztjährigen Filmfestival von Cannes, war finnischer Beitrag für den Auslandsoscar, wurde für drei europäische Filmpreise (Bester Film, Beste Hauptdarstellerin, Bester Hauptdarsteller) als auch für die Indie Spirit Awards und die Golden Globes als bester international Spielfilm nominiert.. Erst jetzt weiß ich, daß der Film einer Romanvorlage von Rosa Liksom folgt.
Foto:
nachher, am Schluß der Fahrt
©Verleih
Info:
Russisch/Finnisch - OmdU und DF 2021 / FINNLAND, DEUTSCHLAND, ESTLAND, RUSSLAND / 106 MIN / 35MM/ 1:2.35 / DOLBY ATMOS
Stab
Regisseur Juho Kuosmanen
Drehbuch. Andris Feldmanis, Livia Ulman, Juho Kuosmanen
Darsteller:
Laura Seidi Haarla
Ljoha Yuriy Borisov
Irina Dinara Drukarova
Zugbegleiterin. Julia Aug
(Natalia Nemova) Ljoha’s Pflegemutter. Lidia Kostina
Finne mit Gitarre (Saska). Tomi Alatalo
Zugkellner Viktor Chuprov
Mann bei Telefonzelle. Denis Pyanov
Hotelangestellte Polina Aug