vorherSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. März 2022, Teil 2

Redaktion 

Helsinki (Weltexpresso) – Wie sind Sie auf den Roman von Rosa Liksom gestoßen und was hat Sie an der Geschichte gereizt? Gab es von Beginn an den Wunsch sie zu verfilmen?
Meine Frau hat das Buch 2010 gelesen, als es herauskam. Ich las kurz den Teaser auf der Rückseite des Buches, fand ihn spannend und fragte sie, ob es möglich sei, das Buch zu verfilmen. Sie bejahte: „Warum nicht, es ist eine interessante Geschichte.“ Das war sie auf jeden Fall, aber es ist auch eine Geschichte, die sich in viele verschiedene Richtungen entwickelt. Bei einer Verfilmung würde man sich für eine Richtung entscheiden müssen. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war mein Gefühl, dass es nur schwer verfilmbar ist. Aber ich habe ein schlechtes Gedächtnis und so vergaß ich im Laufe der Zeit einen Großteil des Buches. Gleichzeitig begann ich wieder sein Potenzial zu spüren. Ich habe es dann erneut gelesen und dachte gleich wieder, dass es nicht verfilmbar sei.

Dann traf ich die Autorin des Buches, Rosa Liksom, bei einer Veranstaltung, und wir sprachen über eine mögliche Verfilmung. Ich erzählte ihr von meinen Gedanken und Zweifeln, und sie sagte, ich könne mit dem Buch machen, was ich wolle. Und das taten wir dann auch.

Der endgültige Film ist also eher von Rosa Liksoms Roman inspiriert, als dass er auf ihm basiert. Nach der Drehort-Recherche und dem Casting änderte sich alles noch weiter. Wir haben uns mit großen Schritten von dem Buch entfernt. Wir änderten die Route, das Jahrzehnt und damit auch das Land, von der Sowjetunion zu Russland, wir änderten das Alter der männlichen Figur und wir änderten sogar seinen Namen von Vadim zu Ljoha. Ljoha war der Name eines verrückten Typen, den wir bei der Drehortsuche im Zug getroffen haben. Das passte also. Wir haben so viel geändert, dass die eigentliche Frage ist, was nicht geändert wurde.

 
Der Film beginnt mit einer Liebesgeschichte, die ihre Herausforderungen und Schwächen hat. Aber dann entwickelt er sich in eine ganz andere Richtung. Inwiefern war diese erzählerische Wendung für Sie als Filmemacher interessant?

In gewisser Weise beginnt der Film, wenn Laura in den Zug steigt, aber ich wollte die komplizierte Situation zeigen, aus der sie flieht. Für mich geht es nicht um eine erzählerische Wendung, sondern eher um Kontraste. Am Anfang ist sie losgelöst, am Ende fühlt sie eine Verbindung. Im Grunde genommen möchte sie am Anfang wie Irina sein, intellektuell, eine Moskauerin. Doch während der Reise merkt sie, dass sie eigentlich mehr mit Ljoha gemein hat – auch sie ist unkorrekt, unbeholfen und einsam.


Ihr erster Spielfilm „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ war eine Liebesgeschichte. Haben Sie für Ihren nächsten Film bewusst nach einem anderen Thema gesucht?

Im Grunde steckt hinter beiden Filmen derselbe Prozess: Ich versuche herauszufinden, warum mich das Thema interessiert und worum es wirklich geht. „Olli Mäki“ ist eine Liebesgeschichte, aber mein persönliches Interesse an dieser Geschichte entstand eher aus der Herausforderung, sich Erwartungen stellen zu müssen. Olli kämpft um den Weltmeistertitel, ich musste damals meinen Debütfilm drehen. Das ist nicht dasselbe, aber es gab überraschend viele ähnliche Gefühle, mit denen ich mich identifizieren konnte. Es ist immer einfacher, mit seinen persönlichen Emotionen umzugehen, wenn eine gewisse Distanz vorhanden ist. Eine Geschichte über einen Boxer in den 1960er Jahren war für mich ausreichend weit genug weg.

Filmemachen ist für mich ein sehr offener und wechselhafter Prozess. Man geht auf etwas Fremdes zu, etwas, das nur ein Schimmer ist. Es bleibt eine ganze Weile ein Geheimnis, aber wenn man dranbleibt, findet sich etwas, das in der Seele widerhallt. Es ist ein wirklich unbewusster Prozess. Wenn es so weit ist, wirst du vielleicht verstehen, was dich angetrieben hat. Ich hasse den Moment am Anfang des Prozesses, wenn man sagen muss, was für einen Film man macht. Man braucht eine gute Antwort, um die Geldgeber zu überzeugen, aber Tatsache ist, dass man die Antwort nicht wirklich kennt.


Ihre beiden Filme haben etwas Zeitloses an sich. Suchen Sie absichtlich nach diesem „klassischen Gefühl“ oder ist es eine natürliche Eigenschaft Ihres Filmemachens?

Michael Cabon sagte: „Nostalgie ist die emotionale Erfahrung - immer vorübergehend, immer zerbrechlich - etwas zu erfahren, was man verloren oder nie gehabt hat: Menschen zu sehen, die man vermisst, Kaffee in alten Cafés zu trinken, die jetzt Hot-Yoga-Studios sind. Es ist das Gefühl, das einen überkommt, wenn eine kleine verschwundene Schönheit für einen Moment wiederhergestellt wird.“ Ich habe immer gesagt, dass ich nicht nostalgisch bin, aber das ist so ziemlich der emotionale Kern meiner Filme. Vielleicht bin ich es also doch ein bisschen, und dieses „klassische“ Gefühl kommt daher.


Der Film lässt uns ein sehr ungewöhnliches „Paar“ kennenlernen. Glauben Sie, dass das Publikum zu sehr darauf konditioniert ist, eine Romanze oder irgendeine Art sexueller Spannung auf der Leinwand zu erleben?

Wim Wenders sagte, dass Sex und Gewalt nie sein Ding waren, er bevorzuge Sax und Geigen. Ich wiederum stehe auf nichts von alledem wirklich. Schon gar nicht das Saxofon.
Was mich jedoch wirklich interessiert, sind Gefühle, die über sexuelle Spannung hinausgehen. Romantische Liebesgeschichten sind oft zu eng gefasst: Verlieben sie sich ineinander? Wenn ja, wann haben sie dann Sex?Bei dieser Art von Geschichten geht es eher darum, den Voyeurismus des Zuschauers zu missbrauchen, es verkauft sich gut, aber ist es wirklich interessant?
Mir ist es eigentlich egal, wer mit wem Sex hat, das ist nicht meine Sache. Mein Interesse gilt den komplizierten Gefühlen, die hinter verschiedenen Arten von Beziehungen stehen, ich möchte verstehen, warum wir fühlen, wie wir es tun. Wenn es dabei um Sex geht, gut, aber das ist keine Erfahrung, bei der ich die Kamera einsetze.

Mir geht es in dieser Geschichte um Verbundenheit, und ich glaube, Laura und Ljoha verbindet etwas Tieferes als ein sexuelles Bedürfnis. Sie sind eher wie lang verschollene Geschwister, ich glaube, dass sie dieselben unausgesprochenen Gefühle teilen. Es ist eher so, dass sie die gleiche Kindheit hatten als die gleiche Vorstellung von Politik oder was auch immer. Sie sind auf einer emotionalen Ebene verbunden, aber nicht durch gemeinsame kulturelle Bezugspunkte.


Sie haben einmal gesagt, dass wir in der Zeit, in der wir dem „Anderen“ begegnen, am meisten wir selbst sind. Inspirierte dieser Gedanke über den „Anderen“ und seine „Andersartigkeit“ die Gestaltung der Beziehung von Laura und Ljoha?

Die Begegnung mit dem „Anderen“ ist sicherlich eines der Hauptmotive dieses Films. Wir haben mit den Drehbuchautor*innen Livia und Andris viel über die Figur von Ljoha gesprochen. Wer oder was ist er überhaupt? Er ist der „Andere“, aber er ist auch ein Spiegel von Lauras wahrem Ich, dem sie vermeidet zu begegnen.

Und so geht es für mich gleichermaßen um die Begegnung mit dem „Anderen“ als auch um ein Eintauchen in das eigene Innere und den Versuch, zu verstehen und zu akzeptieren, wer man ist. Diese Themen schließen sich nicht aus, im Gegenteil: Wenn man jemand Neuem begegnet, besteht immer die Möglichkeit, neu anzufangen, so zu tun, als wäre man jemand, der man gerne sein möchte. Es ist immer auch eine Chance, sich zu öffnen und etwas Neues über sich zu erfahren.
Es gibt eine gewisse Art von „Behaglichkeit im Fremden“. Je nachdem wie das Aufeinandertreffen mit dem Anderen läuft, fängt man entweder an, sich zu verstellen, oder man lässt los und ist endlich einfach man selbst.


„Abteil Nr. 6“ handelt auch von einer universellen, allumfassenden Liebe zu unseren Mitmenschen. Würden Sie dem zustimmen bzw. haben Sie das Gefühl, dass dieses Gefühl für unsere Mitmenschen verloren geht und wir als Gesellschaft den Anschluss verlieren?

Wir verlieren auf vielen Ebenen den Anschluss, und das ist eine davon. Die Idee der Begegnung mit dem „Anderen“ und der Verzicht auf unsere eigenen vorgefertigten Vorstellungen, die wir voneinander haben, ist definitiv ein Schlüssel zu einer besseren Welt. Es ist kein Wunder, dass die Theorien über den „Anderen“ die Welt nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu interessieren begannen, als wir ebenfalls so stark gespalten waren.


Es gibt eine lange Tradition von finnisch-russischen Geschichten, die oft einen besonderen Stil haben. Woher stammt diese besondere Art von Tonfall, Erzählweise und Humor?

Das ist schwer zu beantworten, weil ich zu tief drinstecke. Ich sehe es nicht wirklich. Wie ich schon sagte: Filmemachen ist für mich eine  unbewusste Sache. Ich denke, Humor und Erzählton sind etwas, das man den meisten nicht erklären muss, und für die meisten gibt es auch keinen Grund, es zu erklären. Manche Leute sagen, es sei die Dunkelheit, die Kälte dieses Teils der Welt. Ich weiß es nicht. Aber es gibt überall auf der Welt die gleichen‚ dunklen Seelen, und sie lachen auch gerne. Ich empfinde mehr Befriedigung, wenn ich traurige Menschen zum Lachen bringe, vielleicht ist deshalb immer eine gewisse Dunkelheit mit dem Lachen verbunden. Unbeschwertes Lachen ist lustig, aber nicht interessant genug, um darüber zu schreiben.


Ein Großteil des Films wurde in einem Zug gedreht. Erzählen Sie uns von den Dreharbeiten.

Die Idee war auf dem Papier viel besser als in der Praxis! Der Ton wurde mit versteckten Mikrofonen aufgenommen, die Crew war wirklich klein, und alles war verdammt langsam, es gab nicht genug Sauerstoff in diesen beengten Räumen und die Gerüche waren schrecklich! Aber am Ende bin ich allen aus unserer Crew dankbar, was wir auf diese intime Art und Weise geschafft haben. Ich denke, es ist uns gelungen, etwas Besonderes einzufangen. In diesen Bildern steckt echtes Leben.


Sie haben bereits Ihre persönliche Verbindung zu Olli Mäki erwähnt. Inwieweit identifizieren Sie sich auch persönlich mit den Hauptfiguren in diesem Film?

Es ist unmöglich, bei etwas Regie zu führen, dass man nicht versteht. Ich muss mich nicht mit meinen Figuren identifizieren, aber ich muss verstehen, was sie fühlen. Charaktere entstehen auf der Basis der gemeinsamen Verständigung zwischen Regisseur und Schauspielern. In Lauras Fall habe ich meine persönlichen Gefühle in die Entwicklung ihrer Figur eingebracht, aber ich habe nicht über ihr Geschlecht nachgedacht; ich glaube, das spielt in diesem Fall keine Rolle. Denn in diesem Film geht es nicht darum, eine Frau zu sein, sondern ein Mensch. Männlich oder weiblich zu sein ist nur eine der möglichen Rollen, die wir einnehmen können, aber in diesem Film versuche ich, über diese Rollen hinauszuschauen. Ich interessiere mich für den verborgenen Grund, der hinter unserer öffentlichen Persona liegt. Auf dem Höhepunkt des Films sind die Figuren frei von diesen Erwachsenenrollen, sie sind wieder wie Kinder, frei.

Generell denke ich, dass „Abteil Nr. 6“ mich sehr an den Prozess des Filmemachens erinnert, wie auch die Geschichte von Olli Mäki. Wie unsere Figuren sind auch Filmemacher rastlos und immer in Bewegung, sie kommen von irgendwoher und gehen irgendwohin und können wahrscheinlich nie wirklich ankommen. Aber wenn der Tag vorbei ist, gibt es einen kurzen, flüchtigen Moment, um das Meer zu 10 beobachten und zu atmen, um sich an jemandes Schulter zu lehnen und einzuschlafen. Und wenn man aufwacht, sind alle weg. Es war schön, aber jetzt ist es vorbei, es ist Zeit, weiterzuziehen.


Lassen Sie uns über die Petroglyphen sprechen. Warum gerade uralte Felszeichnungen und welche Rolle spielen sie für den Charakter des Films?

Petroglyphen sind bleibende Zeichen aus der Vergangenheit. Laura glaubt, dass sie bei ihrem Anblick mit etwas Dauerhaftem in Kontakt treten kann. In einem Leben, das nur aus einer Reihe entschwindender Momente besteht, glaubt sie, dass ihr das eine Beständigkeit geben kann. Aber Petroglyphen sind nur kalte Steine, durch die man nicht wirklich eine Verbindung spürt. Alles, was wir haben, sind diese flüchtigen Momente, alles, was zählt, ist vorübergehend. Wenn wir etwas ‚Ewigem‘ nachjagen, können wir verlieren, was wir im Jetzt haben.
Andererseits stehen Petroglyphen auch für die Angst vor dem Tod. Wir wollen nicht einfach für immer verschwinden, wir wollen, dass man sich an uns erinnert. Die Menschen fertigen verrückte Statuen und Schnitzereien an, um der Welt ein Zeichen ihrer Existenz zu hinterlassen. Aber was Laura und Ljoha auf dieser Reise erleben, wird auch tiefe Spuren in beiden hinterlassen. „Abteil Nr. 6“ ist meine Petroglygedreht. Wir waren lebendig und hatten eine Menge Spaß.


Foto:
vorher, am Anfang der Reise
©Verleih

Info:
Russisch/Finnisch - OmdU und DF 2021 / FINNLAND, DEUTSCHLAND, ESTLAND, RUSSLAND / 106 MIN / 35MM/ 1:2.35 / DOLBY ATMOS

Stab
Regisseur    Juho Kuosmanen
Drehbuch.   Andris Feldmanis, Livia Ulman, Juho Kuosmanen

Darsteller:
Laura     Seidi Haarla
Ljoha.     Yuriy Borisov
Irina.       Dinara Drukarova
Zugbegleiterin.      Julia Aug
(Natalia Nemova)  Ljoha’s Pflegemutter.   Lidia Kostina
Finne mit Gitarre (Saska).    Tomi Alatalo
Zugkellner        Viktor Chuprov
Mann bei Telefonzelle.      Denis Pyanov
Hotelangestellte        Polina Aug

Abdruck aus dem Presseheft