hero1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 31. März 2022, Teil 7

Redaktion 

Berlin  (Weltexpresso) – Wie sind Sie auf die Idee zu DIE VERLORENE EHRE DES HERRN SOLTANI gekommen?

Ich las solche Geschichten des öfteren in der Zeitung. Geschichten von normalen Menschen, die wegen selbstloser Taten ins Rampenlicht gerückt wurden. Diese Geschichten ähnelten sich meist. DIE VERLORENE EHRE DES HERRN SOLTANI ist nicht von einem bestimmten Artikel inspiriert, aber ich hatte diese Presseberichte im Kopf, als ich das Drehbuch zum Film schrieb.


Warum spielt die Geschichte in Shiraz?

Das Thema des Films spricht für sich. In Shiraz findet man noch viele antike Überreste, bedeutende und ruhmreiche Spuren der iranischen Identität. Der Hauptgrund, warum ich diese Stadt wählte, ist das Spezielle an der Geschichte und ihrer Figuren. Außerdem wollte ich Abstand von den Tumulten in Teheran.


Wie haben Sie das Drehbuch zum Film geschrieben?

Ich hatte eine vage Vorstellung von der Geschichte, dank der realen Ereignisse aus der Presse. Und im Laufe der Jahre wurde diese Idee immer klarer. Ich arbeite immer auf die gleiche Weise. Der Reiz kann von einem Bild, einem Gefühl, einer kurzen Handlung ausgelöst werden, die sich mit der Zeit entwickelt. Manchmal bleibt das alles in einer Ecke meines Kopfes, ohne dass ich weiß, dass daraus eines Tages ein Drehbuch werden wird. Zeit ist ein wichtiger Verbündeter. Einige dieser Samen verschwinden von selbst, andere sind beharrlich, wachsen und bleiben als unvollendeter Prozess, der nur darauf wartet, dass man sich seiner annimmt. In diesem Moment beginnt sich eine Idee zu entwickeln, die durch vereinzelte Notizen ans Licht kommt. Danach kommen die Recherche und die ersten Entwürfe, die dir zeigen, welchen Weg du einschlagen musst. Fast jede Geschichte, die ich geschrieben habe, entwickelte sich so in meinem Kopf. Ich kann mich nicht erinnern, eine komplette Geschichte mit einem klaren Anfang, einem Mittelteil und dem Ende von Grund auf neu geschrieben zu haben.


Hatten Sie die vollständige Biografie Ihrer Figuren im Kopf?

Die verstreuten Notizen, über die ich bereits sprach, bestehen größtenteils aus der Erforschung der Vergangenheit der Figuren. Dieser immer sehr zeitaufwendige Schritt betrifft im Wesentlichen die Hauptfiguren. Monatelang mache ich mir auf verschiedenfarbigen Blättern Notizen zu allen Ideen, die mit der Geschichte zu tun haben, die ich schreibe. Ich habe eine Farbe für die Ideen, die ich ganz sicher in das Drehbuch einbauen werde und eine andere für jene, bei denen ich mir noch unsicher bin. Viele dieser Blätter werden in der Schreibphase nicht direkt verwendet. Sie liefern keine klaren Informationen für das Drehbuch, aber sie helfen mir, meine Figuren besser zu verstehen. In dieser Vorbereitungsphase werden viele Aspekte der Vergangenheit der Figuren aufgebaut, die mehr oder weniger sichtbare Spuren im Film hinterlassen.


Die Hauptfigur Rahim ist ziemlich zweideutig. Man denke an dieses Lächeln, das er immer auf dem Gesicht hat ...

Ich fühlte, dass eine realistische Herangehensweise an den Film komplexe Persönlichkeiten der Figuren erforderte. Im wirklichen Leben bestehen Menschen aus einer Vielzahl von Dimensionen, und unter bestimmten Umständen übernimmt eine davon die Oberhand und wird deutlicher sichtbar. Dies sind „graue“ Charaktereigenschaften: Sie sind nicht stereotypisch, einseitig. Wie jede Person im täglichen Leben sind sie gegensätzlich, haben antagonistische Tendenzen und sind gespalten, wenn es um Entscheidungen geht. Rahims Lächeln ist Teil von Charaktermerkmalen, die sich während monatelanger Proben nach und nach herauskristallisierten, um das Schauspiel besser definieren zu können. Es ging darum, der Rolle diese „grauen“ Charaktereigenschaften zu geben, die zum Alltag eines Jeden dazugehören.


Wie gehen Sie vor, um Gruppenszenen, insbesondere innerhalb der Familie, so natürlich zu gestalten?

Das kommt größtenteils über das Schreiben. Es ist ein unbewusster Prozess. Die gesamte Crew und die Darsteller achten darauf, dass jedes Detail der Szene plausibel und authentisch ist und geben ihr Bestes, um dem Drehbuch Leben einzuhauchen. Da Verhalten und Dialoge der Figuren realistisch sind und nicht auf Klischees beruhen, dürfen die Schauspieler nicht in die Falle der Oberflächlichkeit tappen. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass die Suche nach einer natürlichen Herangehensweise selbst artifiziell wird. Der Grat ist sehr schmal und subtil, und man muss aufpassen, dass man die Linie nicht überschreitet. Der Alltag kann redundant und langweilig sein. Als Regisseur muss man darauf achten, dass diese Suche nach einer realistischen, fast dokumentarischen Szene nicht mit dem langsamen Rhythmus des alltäglichen Lebens kollidiert.


Siavash lebt bei seinem Onkel und seiner Tante, Farkhondeh lebt bei ihrem Bruder: In diesen großen Familien spürt man echte Solidarität, die manchmal auch zur Last werden kann. Ist das im Iran üblich?

Ich vermute, dass es in der Hauptstadt oder zumindest in den Großstädten wie auch in vielen anderen Ländern üblich ist. Aber anderswo verläuft der Alltag langsamer, die Familien haben ihre Identität und ihre traditionelle Lebensweise nicht verloren, und diese vereinigten Familien sind häufiger anzutreffen. Die familiären Beziehungen sind hier stärker entwickelt und in einer Notsituation fühlen sich alle mit einbezogen. Ich bin in einem solchen soziokulturellen Umfeld aufgewachsen. Vor zwanzig Jahren gab es den Satz „Es ist nicht mein Problem“ in der iranischen Sprache nicht. Dieses Verhalten ist importiert worden und verkörpert ein neues Beziehungsmodell unserer Gesellschaft.


Auch die Figur Bahram, der Mann, dem Rahim Geld schuldet, ist sehr zweideutig ...

Diese Figur hätte eigentlich der Bösewicht des Films sein müssen, und wir hätten uns über die Hindernisse ärgern müssen, die er der Hauptfigur in den Weg legt. Aber im Kontext der bereits beschriebenen Charakterentwicklung, hat auch er seine Gründe, so zu handeln, wie er es tut. Wenn er diese Gründe erklärt, erscheinen sie gerechtfertigt und sein Verhalten nachvollziehbar. Vielleicht ist es diese Dimension der Figur, die ihn zu mehr als nur dem stereotypen Bösewicht macht, die uns näher an ihn heranführt.


Wie in NADER UND SIMIN – EINE TRENNUNG ist die Perspektive der Kinder wichtig ...

In diesem Film sind die Kinder wieder einmal Zeugen. Sie beobachten die Schwierigkeiten der Erwachsenen und ihre Konflikte. Sie verstehen die Komplexität dieser Schwierigkeiten nicht, und deshalb sind sie nur verblüffte Zuschauer aller Ereignisse. Ihre Wahrnehmung der Krise, die Erwachsene durchmachen, ist rein emotional. In diesem Film ist Nazanin, Brahams Tochter, jedoch schon älter und tut etwas, das die Situation noch komplexer macht.


Die meisten Figuren im Film kommunizieren über soziale Medien. Ist das ein neues und mächtiges Phänomen im Iran?

Wie überall auf der Welt nehmen auch im Iran die sozialen Medien einen wichtigen Platz im Leben der Menschen ein. Dieses Phänomen ist recht neu, aber seine Auswirkungen sind so stark, dass man sich nur schwer daran erinnern kann, wie das Leben vorher aussah. Meine persönliche Erfahrung lässt mich glauben, dass dies in der iranischen Gesellschaft deutlicher ist als anderswo. Ich denke, es lässt sich mit der soziopolitischen Lage des Landes erklären.


Am Ende eines jeden Ihrer Filme hat der Zuschauer nicht alle Antworten. Sind Sie ein Filmemacher, der sich nicht entscheiden möchte?

Wie bereits erwähnt, sind diese Gemeinsamkeiten meiner Filme nicht beabsichtigt. Diese beinahe mysteriöse Zweideutigkeit entsteht ganz natürlich beim Schreiben. Ich muss gestehen, dass mir das gefällt. Dieser Aspekt macht die Beziehung zwischen dem Film und dem Zuschauer über die Vorführung hinaus nachhaltiger. Der Zuschauer bekommt die Möglichkeit mehr über den Film zu reflektieren. Es bereitet mir immer große Freude, den Film RASHOMON – DAS LUSTWÄLDCHEN zu sehen, gerade wegen seiner geheimnisvollen Dimension. Es ist eine interessante Herausforderung, die Mehrdeutigkeit des täglichen Lebens mit einer Geschichte zu verbinden.


Kennen Sie das berühmte Zitat von Jean Renoir: „Das Schrecklichste auf dieser Welt ist, dass jeder seine Gründe hat“? Es scheint auf die meisten Figuren ihres Films zu passen ...

Dem stimme ich voll und ganz zu. Jeder hat seine Gründe, so zu handeln, wie er es tut, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Würden Sie darum bitten, die Gründe aufzulisten, sie könnten es nicht tun. Diese Gründe sind nicht klar und leicht zusammenzufassen. Sie stecken voller Widersprüche. Im wirklichen Leben kann es Jahre dauern, bis die Menschen die Gründe für ihre Taten verstehen, weil sie tief in ihre Vergangenheit eingebettet sind. Dazu muss ich klarstellen, dass ich nicht glaube, dass deswegen alle Handlungen gerechtfertigt werden können. Es geht nicht um Legitimation, sondern um Verständnis. Verstehen bedeutet nicht, für richtig befinden. Indem wir die Gründe kennen, die jemanden zum Handeln veranlasst haben, können wir ihn verstehen, ohne zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Foto:
©Verleih

Stab
Regie und Drehbuch      Asghar Farhadi
Produktion.      Alexandre Mallet-Guy, Asghar Farhadi
Koproduktion.   Olivier Père, Rémi Burah
Kamera.    Ali Ghazi
Script.      Ghazal Rash
 
Besetzung 
Rahim.     Amir Jadidi
Bahram.     Mohsen Tanabandeh
Mme Radmehr.      Fereshteh Sadrorafaii
Farkhondeh         Sahar Goldoust
Malileh               Maryam Shahdai