Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Mai 2022, Teil 3
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Pantomime Marcel Marceau ist auch heute noch 15 Jahre nach seinem Tod als tragisch komischer Clown Bip bekannt, der mit weiß geschminktem Gesicht, im Ringelhemd und mit zerbeultem Zylinder und einer roten Blume auftrat. Marceau, der eigentlich Marcel Mangel hieß, stammt aus einem jüdischen Elternhaus. Sein Vater ist aus Polen, seine Mutter aus der Ukraine nach Frankreich eingewandert. Er selbst wurde am 22. März 1923 in Straßburg geboren und starb am 22. September 2007.
Marcel Marceau hat seinen französischen Namen während seiner Zeit im Widerstand angenommen, dem er sich 1942 anschloss. Sein Vater Charles Mangel besaß in Straßburg eine koschere Metzgerei und war kulturell interessiert. Er wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und ist dort umgekommen. Marceau hat zusammen mit seinem Cousin Georges Loinger mehr als 300 jüdische Kinder über die Grenze in die Schweiz geschmuggelt. Dabei hat er - beeinflusst durch Buster Keaton und Charlie Chaplin - den Kindern durch Gesten und Mimen beigebracht, in Gefahrensituationen nicht zu sprechen.
Nach dem Krieg hat er daraus eine Kunstform entwickelt, mit der er weltweit sehr erfolgreich war. Er trat auch relativ bald wieder in Deutschland auf - auch durch seine Verbindung zum amerikanischen General George Smith Patton Jr., dessen Verbindungsmann er durch seine guten Englischkenntnisse nach dem Krieg war und der Marceau gebeten hat, auch vor den amerikanischen Truppen in Deutschland aufzutreten. Seine Tochter meint, dass Marceau zwar darüber nachgedacht habe, ob er in Deutschland auf Henker seines Vaters treffen könnte, aber er glaubte immer an die Kraft des Humors, an das Lachen, an die Stille seiner Kunst, die auch die härtesten Herzen berühren konnte.
Marcel Marceau selbst hat in seiner Pariser Schule bis kurz vor seinem Tod nach wie vor Meisterkurse abgehalten. Seine Erben - seine dritte Frau Anne Sicco, seine beiden Töchter Camille und Aurélia Marceau sowie sein Enkel Louis Chevalier führen seine Tradition auch heute noch fort...
"Die Kunst der Stille" ist ein Dokumentarfilm von Regisseur Maurizius Staerkle Drux, der auch selbst das Drehbuch geschrieben hat. In seiner Dokumentation spürt der Regisseur dem Vermächtnis Marceaus nach und konnte für seinen Film exklusives Archivmaterial auch von der Familie Marceau verwenden und schaut mit einem persönlichen Blick auf den Mimen. Denn Staerkle Drux hat ganz persönliche Gründe sich mit dem Mimen und seiner Arbeit auseinander zu setzten: Sein Vater Christoph Staerkle ist selbst gehörlos und hat durch die Pantomime für sich ein Sprachrohr gefunden. Dies wurde auch immer wieder in Szenen gezeigt, in denen Christoph Staerkle vor Publikum auftritt.
In dem Film werden zwar immer wieder Aufnahmen von Auftritten Marceaus und auch Interviews gezeigt, aber eigentlich geht es vor allem um sein Vermächtnis. In dem Film kommen immer wieder Mitglieder seiner Familie zu Wort. So seine dritte Frau, die Regisseurin, Dramaturgin und Theaterpädagogin Anne Sicco, die ein Kulturzentrum betreibt, in dem sie Aufführungen und Hommagen veranstaltet und dadurch die Erinnerung an Marcel Marceau und seine Kunst wach hält und für das heutige Publikum erlebbar macht.
In diesen Aufführungen treten auch ihre beiden Töchter Aurélia und Camille Marceau und ihr Enkel Louis Chevalier auf. Louis Chevalier, der beim Tod seines Großvaters fünf Jahre alt war, tritt zwar auch im Kulturzentrum seiner Großmutter als Pantomime auf, aber er studiert vor allem Tanz in Toulouse und ist dankbar, dass er einen anderen Nachnamen hat, so dass er nicht immer mit seinem Großvater verglichen wird.
Allerdings stellt der Regisseur die Lebenswege von Großvater und Enkel nebeneinander, indem er Archivmaterial und aktuelle Szenen ineinander übergehen lässt und er beide ähnliche Bewegungen ausführen lässt. Dabei geht Marcel Marceaus Pantomime fließend in den Tanz von Louis Chevalier über, dadurch verwischen sich die Grenzen zwischen Erinnerung und Gegenwart.
Neben den Interviews mit den Nachfahren Marceaus sind auch die Gespräche mit Marceaus Cousins Georges und Daniel Loinger spannend, denn Georges Loinger, der mit Marceau zusammen die jüdischen Kinder in die Schweiz geschmuggelt hat, war zum Zeitpunkt des Interviews schon weit über 100 Jahre alt, aber er konnte sich immer noch an die gemeinsamen Erlebnisse erinnern. Er ist im Dezember 2018 mit 108 Jahren verstorben.
Maurizius Staerkle Drux zeigt auch Rob Mermin, der 1969 ein Schüler Marceaus war und der als Clown, Schauspieler und Zauberer durch die Welt getourt ist. Da er selbst an Parkinson erkrankt ist, hat er mit dem Parkinson-Pantomime-Projekt (PD Mime) Methoden des Trainings spezifischer motorischer Fähigkeiten erarbeitet, die von den Techniken der Pantomime und des Zirkus übernommen wurden, um die Symptome von Parkinson zu lindern. Er bietet heute erfolgreich Kurse zur Pantomime als Bewegungsübungen für Parkinson Patienten an.
Insgesamt ist "Die Kunst der Stille" ein spannender Film, in dem tolle Archivaufnahmen mit dem Vermächtnis der Verwandten Marceaus verwoben werden. Leider ist er an einigen Stellen doch etwas chaotisch geraten. Dies ist vor allem durch den familiären Rahmen des Regisseur bedingt, denn es war sicher auch interessant, wie Christoph Staerkle mit seiner Gehörlosigkeit umgeht, aber seine Szenen wurden doch manchmal etwas unmotiviert dazwischen geschnitten.
Trotz der leisen Kritik ist "Die Kunst der Stille" eine anrührende und poetische Dokumentation, die nicht nur die Kunst Marcel Marceaus vorstellt, sondern auch darstellt, wie die Pantomime als Kunstform dabei helfen kann, Unsagbares auszudrücken und Kraft zu schöpfen und wie sein Erbe auch heute in ganz verschiedenen Formen noch weiterlebt. Dies macht den Film auf jeden Fall sehenswert.
In Köln, Hamburg, Berlin, München und Stuttgart wird es eine barrierefreie Kinotour geben. Dabei wird der Film auf der Leinwand mit Untertiteln für gehörlose und hörgeschädigte Menschen gezeigt. Anschließend wird das Q&A live in Gebärdensprache übersetzt. Zusätzlich gibt es Audiodeskription via GRETA App.
Zusatz: Marcel Marceau und seine Erlebnisse im französischen Widerstand sowie die Rettung jüdischer Kinder sind auch der Inhalt des Spielfilms "Resistance" (2020), in dem Jesse Eisenberg Marcel Marceau spielt.
Foto 1: Marcel Marceau © W-film / Les Films du Prieuré
Foto 2: Aurélia Marceau © W-film / Raphael Beinder (Beauvoir Films)
Foto 3: Louis Chevalier © W-film / Raphael Beinder (Beauvoir Films)
Info:
Die Kunst der Stille (Schweiz, Deutschland 2021)
Originaltitel: L'art du silence
Genre: Dokumentarfilm, Marcel Marceau
Filmlänge: 82 Min.
Sprachfassung: OmU (Originalfassung mit Untertiteln)
Regie und Drehbuch: Maurizius Staerkle Drux
Protagonisten; Marcel Marceau, Anne Sicco, Camille Marceau, Aurélia Marceau, Louis Chevalier, Rob Mermin, Georges Loinger, Daniel Loinger, Christoph Staerkle u.a.
Verleih: W-film Distribution
FSK: ab 0 Jahren
Kinostart: 05.05.2022