Raetselhafte Venus TV1TV-Erstausstrahlung am Samstag, 28. Mai 2022 bei Arte

Margarete Ohly-Wüst

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Naturhistorischen Museum in Wien gibt es eine etwa 29 000 Jahre alte kunstvoll gefertigte Frauenstatuette, die so genannte Venus von Willendorf. Das Figürchen ist üppig und nackt, dabei sind die primären Geschlechtsteile deutlich zu erkennen. Es gilt als eines der ältesten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte.

Das altsteinzeitliche Figürchen ist etwa 11 cm groß und stammt aus dem mittleren Jungpaläolithikum. Die Menschen dieser Zeit, die von 34000 bis 26000 Jahren unserer Zeitrechnung gedauert hat, haben ihre Spuren vom heutigen Spanien bis zur heutigen Ukraine hinterlassen. Die Venus von Willendorf gilt als Österreichs bekanntester archäologischer Fund.

Es konnte von Archäologen und Paläontologen noch nichts über den Künstler oder die Künstlerin und die Entstehungsgeschichte herausgefunden werden. Es ist aber bekannt, dass der Kalkstein des Figürchens ein Oolith ist, der sich aus dicht gepackten Ooiden von 0,3 bis 1 mm Größe zusammengesetzt. Zwischen den Kügelchen befindet sich Kalkzement.

Oolith ist ein Gestein, das in der Umgebung von Willendorf nicht vorkommt. Geologische Analysen lassen vermuten, dass die Venus vermutlich aus norditalienischem Gestein aus dem Gebiet um den Gardasee hergestellt worden war.

Da die Menschen der Steinzeit ziemlich sicher Nomaden waren, vermutet man, dass die Gegend von Willendorf ihnen als Winterlager gedient hat.

Bis heute wurden über 200 ähnlicher Frauenfiguren zwischen Spanien und Sibirien gefunden. Sie waren allerdings nicht nur aus Kalkstein wie das Willendorfer Figürchen, sondern auch aus Speckstein, Elfenbein oder Ton. Bei der Venus von Dolní Věstonice in Mähren, die aus Tonerde gefertigt wurde, konnte man anhand eines Fingerabdrucks nachweisen, dass sie von einer Frau hergestellt wurde. Es wurde auch nachgewiesen, dass schon Kinder diese Figürchen anfertigen konnten.

Raetselhafte Venus TV2Die Wissenschaftler sind sich heute sicher, dass es in den steinzeitlichen Menschengruppen keine Hierarchie und keine Unterschiede in der Arbeit gegeben hat, sondern dass die Frauen genauso wie die Männer auf die Jagd gegangen sind und sich künstlerisch betätigt haben.

Es wird auch vermutet, dass die Figuren kein Sexsymbol der Altsteinzeit darstellt, sondern es wurden möglicherweise Frauen jenseits der Wechseljahre dargestellt, die als Heilerinnen ihr Wissen weitergeben können und deshalb ein hohes Ansehen in der Gruppe genossen. Die Venus von Willendorf hat allerdings keine Öse im Gegensatz zu vielen anderen Figuren - wie z.B. die Venus von Hohlefeld, eine etwa 6 cm große aus Mammutelfenbein geschnitzte Figur aus der Gegend um Blaubeuren - die Ösen besitzen und vermutlich als Talisman um den Hals getragen wurden.

Es ist den heutigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wichtig, mit den Vorurteilen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts über das Steinzeitklischee vom jagenden Mann und der Frau als Hüterin des Heims aufzuräumen, denn diese Forscher zeichneten ein Bild, das die patriarchalischen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts widerspiegelte.

In der Dokumentation wurden in aufwendigen Spielszenen die wissenschaftlichen Erkenntnisse spannend und anschaulich erzählt. Sie visualisieren die bis ins letzte Detail rekonstruierte Lebenswelt der Menschen vor 29000 Jahren.

Im Mittelpunkt des Films steht dabei die 12jährige Yama, eine Frau an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Sie muss ihren Platz in der Gemeinschaft erst erkämpfen. So muss sie lernen, wie man jagt, aber auch, wie man eine Statuette wie die Venus anfertigen kann. An ihrem Beispiel erlebt man im Film das Zusammenleben unserer Vorfahren. Dabei ist die Aussage wichtig, dass diese Menschen der Altsteinzeit schon Erstaunliches geleistet haben und eine hohe und entwickelte Kultur besaßen.

Die Dokumentation über das rätselhafte Figürchen zeigt auf, dass die Gruppe, die die Venus von Willendorf erschaffen und dort zurückgelassen hat, Teil eines größeren Kulturraums war. Es waren Menschen die vermutlich eine andere Hautfarbe als die heutigen Europäer hatten, die aber sicher schon über die gleichen Fähigkeiten wie der heutige Mensch verfügten und die auch ein Bedürfnis nach Ästhetik in Kleidung, Schmuck, Kunstwerken, Malerei oder Musik hatten.

Raetselhafte Venus TV3Insgesamt versucht die Dokumentation "Rätselhafte Venus" mit den Vorurteilen des 19. Jahrhunderts über der Verteilung der Aufgaben und das Verhalten von Männern und Frauen in der Gruppe aufzuräumen, denn nach heutiger Theorie gingen sowohl Männer als auch Frauen auf die Jagd und auch die Kunstgegenstände wurden von Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts angefertigt. Dabei wurde deutlich, dass die nackten Venus-Figürchen ganz sicher kein Sexsymbol waren und auch nicht das Schönheitsideal der Altsteinzeit bedeuteten, sondern es wurden wohl ältere Frauen dargestellt, die als Heilerinnen und möglicherweise auch Schamaninnen großes Ansehen in der Gruppe genossen. Die anschaulich gezeigten neuen Theorien machen die Dokumentation nicht nur sehr informativ, sondern auch spannend. Sie ist deshalb nicht nur archäologisch Interessierte unbedingt sehenswert.

Foto 1: Venus-Statuetten aus der Steinzeit im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren © epo-film 2021
Foto 2: In der Steinzeit waren Mädchen wie Yama (Marlena Selikovsky) unter anderem dafür zuständig, Gräser und Reisig für das Lagerfeuer zu sammeln © epo-film 2021
Foto 3: Yama (Marlena Selikovsky, li.) zeigt ihrer Freundin (Simone Singh Sondhi, re.) ihren Talisman: die Venus von Willendorf © epo-film 2021

Info:
Rätselhafte Venus (Österreich 2021)
Genre: Dokumentation, Archäologie
Regie: Klaus T. Steindl
Darsteller: Marlena Selikovsky, Simone Singh Sondhi u.a.
Filmlänge: ca. 51 Min.
FSK: ab 0 Jahren
"Rätselhafte Venus" ist eine TV-Erstausstrahlung als Arte-Highlight im Rahmen des Arte Geburtstagsprogramms (30 Jahre) am Sa. 28.05.2022 um 20:15 Uhr. Wiederholung im Rahmen des Thementags Archäologie am Sa. 18.06.2022 um 16.30 Uhr. Die Dokumentation ist Online vom 27.05.2022 bis zum 26.06.2022 verfügbar.