Bildschirmfoto 2022 08 11 um 00.07.12Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 11. August 2022, Teil 1

Redaktion

Madrid (Weltexpresso) - Die Mitglieder der Berlinale-Jury um M. Night Shyamalan sollen, wie berichtet wird, höchst verwundert gewesen sein, als sie den Abspann von „Alcarràs“ sahen: Alle Schauspielerinnen und Schauspieler hatten unterschiedliche Namen. Die Familie Solé existierte in Wirklichkeit gar nicht? Vielleicht steckt das Wunder von Alcarràs hier, in dieser Verwunderung. Oder, wie die spanische Tageszeitung El Mundo schrieb: „Die fiktive Familie hier ist im Grunde die wirklichste aller vorstellbaren Familien. Es ist eine Fiktion gegen die Fiktion der Fiktion.“

SOLO UND TUTTI

Dolors singt, während sie Quimets maladen Rücken massiert. Als sie die Salbe sucht, sehen wir Mariona, die sich die Fingernägel lackiert. Das sanfte Wasserplätschern kommt von Iris in der Badewanne. Und in der Ecke wäscht sich Roger die Hände. Was anfangs eine Szene intimer Traulichkeit ist, zeigt sich schließlich als Familienvollversammlung im Badezimmer, mit Dolors als Ankerpunkt. Es gibt vieler solcher Szenen in „Alcarràs“. Was so mühelos und wirklich auf der Leinwand erscheint, ist das Ergebnis langer Arbeit, am Drehbuch, an der Choreografie und Inszenierung eines Films, der an jeder Stelle weiß, aus welcher Position er erzählt. Jede und jeder in dieser Filmfamilie bekommt hier einen eigenen Blick und eine eigene Stimme. Aber im Unterschied zu konventionellen Erzählstrategien, die eine Figur nach der anderen einführen, herrscht in „Alcarràs“ von Anfang an eine andere Stimmführung, eine Gleichzeitigkeit, ein permantes Miteinander und Durcheinander. Jede Stimme wird begleitet von anderen Stimmen und gewinnt ihre Unverwechselbarkeit gerade aus dem Zusammenklang.

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DREHBUCH

Am Drehbuch arbeitete Carla Simón gemeinsam mit Arnau Vilaró. „Ich hatte allein angefangen zu schreiben“, erzählt Carla Simón, „aber irgendwann wurde mir bewusst, dass mir etwas fehlte, obwohl mir diese Welt durch meine Onkel und Tanten vertraut war.“ Arnau Vilaró, der schon bei „Fridas Sommer“ ihre rechte Hand gewesen war, brachte die Innensicht dieser Welt mit. Er stammt aus einem Dorf in der Nähe von Alcarràs, seine Eltern sind Landwirte. Simón und Vilaró beschäftigten sich viel mit Ensemblefilmen so unterschiedlicher Regisseure wie Luis García Berlanga, Desplechin oder Robert Altman, eine wichtige Referenz war dabei „Der Holzschuhbaum“ von Ermanno Olmi. „Die narrative Ebene des Films war sehr komplex, wegen seines choralen Charakters“, meint Carla Simón. „Es war sehr hilfreich, zu zweit zu sein und Stränge und Fäden zu entdecken, die sich widersprechen. Tatsächlich hängt alles davon ab, wie man die Geschichte erzählt. Wir haben es immer vermieden, allzu deutlich zu werden, vor allem in den Dialogen. Dagegen habe ich eine ausgesprochene Allergie. Gleichzeitig war es schwierig, mit Subtilität zu erzählen, bei so vielen Protagonisten, die alle ihre Zeit auf der Leinwand brauchen.“


ERINNERUNGEN SCHAFFEN

Für die Vorbereitung des Films wurde ein Haus in der Region angemietet, in der sich Carla Simón über drei Monate hinweg fast täglich mit den Schauspielerinnen und Schauspielern traf, in unterschiedlichen Familienkonstellationen: Großvater und Enkelin, die Geschwister, Vater und Sohn, das Paar, die Kinder. Es ging darum, Familienszenen zu improvisieren, Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und in der Gesamtfamilie aufzubauen – eine Methode, die Carla Simón schon bei ihrem Kurzfilm „Lipstick“ angewandt hatte. Damals hatte ihr ein Professor der Filmhochschule angesichts der Herausforderung, mit 30 Minuten 35mm-Filmmaterial einen Kurzfilm mit zwei Kindern in den Hauptrollen zu drehen, geraten: „Sie müssen sich selbst glauben. Du musst Erinnerungen bei ihnen schaffen.“

Anna Otín, die Darstellerin der Dolors, erinnert sich, dass sie diese Zeit sehr intensiv und gleichzeitg spielerisch erlebt hätten. „An einem Tag waren Josep und ich da, am anderen der Großvater und Mariona, dann wieder die Jungs ... und Carla hatte immer eine Kamera dabei. Wir bekamen das Gefühl, dass die Kamera einfach ein Teil von ihr ist, ein Auge, das alles sieht.“ Und Montse Oró ergänzt: „Eine Zeit lang haben wir Szenen improvisiert und gefilmt, die den Szenen vorausgehen, die der Film erzählt. Das hat sehr geholfen, in die Geschichte und unsere Rollen einzutauchen. Als die Dreharbeiten losgingen, waren wir eine Familie.“ Nach den drei Monaten traf sich die gesamte Filmfamilie zum Grillfest. Zum ersten und einzigen Mal lasen alle gemeinsam das komplette Drehbuch. „Ich wollte nicht, dass sie die Dialoge auswendig lernen“, sagt Carla Simón. „Es ging darum, dass alle wissen, was wir machen würden.“


PROBEN UND DREHARBEITEN

Die eigentlichen Proben der Filmszenen begannen im Anschluss, am Set. „Die Schauspieler mussten lernen, wie Dreharbeiten funktionieren. Und sie brauchten eine Idee davon, was sie jeweils zu sagen hatten, was ihr Dialog war“, sagt Carla Simón. Zu diesem Zeitpunkt kam mit Clara Manyós als Coach eine zusätzliche Ansprechpartnerin für die Schauspieler dazu. „Sie half mir auch bei Sachen, die ich nicht konnte“, sagt Carla Simón. „Jordi Puyol Dolcet zum Beispiel, der den Quimet spielt, hatte seit seiner Kindheit nicht mehr geweint. Es hat drei Tage gedauert, bis er das vor der Kamera konnte. Wir haben alles versucht, sogar mit Zwiebeln. Es gibt viele Filmemacher, die mit nicht-professionellen Schauspielern arbeiten und von ihnen wollen, dass sie nicht ‚spielen‘. Aber hier mussten sie spielen: Quimet musste weinen.“ Auch das Filmteam bereitete sich minutiös auf die Dreharbeiten vor. „Wir sind das Drehbuch mit allen wichtigen Mitgliedern im Team eine Woche lang durchgegangen. Und wir haben für jeden Moment des Films festgelegt, welche Perspektive ausschlaggebend ist. Es war mir sehr wichtig, in die Dreharbeiten zu gehen und in jedem Moment zu wissen, mit wem wir sind und von wem zu wem sich die Szene entfaltet.“


Beim Dreh ging es darum, die richtige Balance zwischen dem Geschriebenen, den Anforderungen der Kamera und der Energie des Moments zu finden. „Die Schauspieler mussten lernen, die Markierungen und ihre Einsätze zu beachten, vor allem in den Szenen mit vielen Beteiligten. Es gab Momente, in denen sie etwas mehr improvisieren konnten, und andere, wo ich genau gesagt habe, was ich wollte.“ Das Ensemble gewöhnte sich schnell an die Anforderungen. „Am Anfang hat mich das alles sehr beeindruckt“, erinnert sich Montse Oró, „die Kamera, das Licht, die ganzen Leute. Und dann kam der Moment, wo ich das nicht einmal mehr gesehen habe. Carla hat erklärt, worum es in der Szene ging. Sie hat einen während des ganzen Prozesses begleitet. Wenn etwas schiefging, hat man es nochmal gemacht, das war’s.“


BILDGESTALTUNG

Carla Simón und ihre Kamerafrau Daniela Cajías nahmen sich viel Zeit, um über die Bildgestaltung nachzudenken. „Die Frage, wo wir die Kamera aufstellen sollten, nahm manchmal fast philosophische Dimensionen an, weil wir sie immer in den Dienst der Figuren stellen wollten“, sagt Carla Simón. „Alcarràs ist ein Ort, der dazu einlädt, ihn poetisch zu filmen, vor allem, wenn du ein Fremder bist.

Aber wir mussten uns bremsen, denn die Leute von dort idealisieren das Land nicht. Wir mussten bei den Gefühlen der Protagonisten bleiben und gefällige Bilder vermeiden.“ Die Kamera sollte wie ein zusätzliches Familienmitglied sein, mittendrin und nahe an den Protagonisten, und die Familie Solé in ihrer Dynamik, in ihren vielfältigen Beziehungen und Gefühlen sichtbar werden lassen. Der Schnitt und die Tongestaltung hatten dann vor allem die Aufgabe, dieses Bild zu akzentuieren und zu rhythmisieren. Die Wirkung von „Alcarràs“ ist erstaunlich. Oder, wie El Mundo schreibt: „Der Film bewegt sich mühelos und elegant auf einem ganz neuen Feld der Identifikation, bei dem wir alle eingeladen sind, uns zu beteiligen. ‚Alcarràs‘ entsteht im Moment des Blick und der Betrachtung. Es gibt keine Trennung und keine Barriere. Die Leinwand gibt nach, sie fällt, bis der kindische Betrug des Fabulierens vollständig verschwunden ist.“ Vielleicht könnte man auch sagen: Bis eine neue Form des Erzählens entsteht.

Foto:
©Verleih

Info:
ALCARRÀS
von Carla Simón, E 2022, 120 Min.
mit Josep Abad, Jordi Pujol Dolcet, Anna Otín
Drama / Start: 11.08.2022

Abdruck aus dem Presseheft