Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. Oktober 2022, Teil 7
Margarete Ohly-Wüst
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Susanne genannt Suzie ist 18 Jahre alt und lebt mit ihrem Vater Klaus (Peter Schneider) und ihrer kleinen Schwester Kerstin (Zoé Höche) in einem Häuschen am Rande von Berlin. Ihre Mutter ist vor einiger Zeit gestorben. Sie steht kurz vor dem Abitur und möchte eigentlich Literatur studieren. Doch dann wird sie bei einer Kontrolle mit Orwells Roman 1984 in der Tasche erwischt - ein Buch, das im Westen gedruckt wurde und in der DDR verboten ist. Deshalb fliegt sie von der Schule und muss sich als Zerspanungs-Facharbeiterin im Kabelwerk Oberspree bewähren.
Doch dann wird sie auf dem Weg zur Arbeit in der Straßenbahn von einem jungen Mann fotografiert und ihr Bild landet in der ostdeutschen Modezeitschrift Sibylle. Suzies 12jährige Schwester Kerstin möchte unbedingt Mannequin werden und schreibt an die Zeitschrift. Die teilen Kerstin daraufhin mit, dass sie noch zu jung ist, aber sie laden Suzie in die Redaktion ein.
Die Chefredakteurin Elsa Wilbrodt (Claudia Michelsen) des Modejournals gibt ihr eine Chance für ein Fotoshooting. Dies eröffnet Suzie die Möglichkeit, dem sozialistischen Fabrikalltag doch noch zu entkommen. Dort lernt sie nicht nur den schwulen und etwas extravaganten Visagisten Rudi (Sabin Tambrea) kennen, sondern auch den rebellischen Fotografen Coyote (David Schütter), dessen Bilder nicht offiziell in der Zeitschrift erscheinen dürfen.
Suzie lernt dadurch die schillernde Subkultur des Ostberliner Undergrounds kennen, die mit viel Fantasie ihre eigene Mode mit allerlei verfügbaren (oder auch geklauten) Materialien kreieren. Während Rudi ihr hilft, die Ansprüchen an ein Model zu erlernen - wie den aufrechten Gang auf hochhackigen Schuhen -, verliebt sie sich in Coyote, der in seiner Ladenwohnung an seinem Motorrad herumschraubt und dessen Bad seine Dunkelkammer ist. Bei einem Ausflug an die Ostsee erlebt Suzie die Freiheit, von der sie immer geträumt hat, allerdings werden sie auch dort von Grenzpolizisten verfolgt.
Doch während Suzie zusammen mit anderen Frauen die neuste Mode der VHB Exquisit, vorführen darf und sie selbst zu einem bekannten Model aufsteigt, deren Bilder überall in Ost-Berlin an den Wänden hängen, fordert dann doch das System seinen Tribut. Suzie muss sich entscheiden, was sie bereit ist zu zahlen, um ihren Traum zu leben...
"In einem Land, das es nicht mehr gibt" beruht teilweise auf den eigenen Erlebnissen von Drehbuchautorin und Regisseurin Aelrun Goette, und weiteren wahren Begebenheiten. Goette selbst wurde in den 1980er Jahren auf der Straße in Ostberlin als Model entdeckt. Sie modelte dann - wie ihr Alter Ego Suzie - für den VHB Exquisit, war auf dem Cover der Sibylle und stand für bekannte Fotografen vor der Kamera.
Der Film erzählt von kreativen Nischen in der DDR, in denen eine wilde Freiheit gegen alle Widerstände des Staates lebendig war. Der Film handelt dabei sowohl von den schönen Seiten der DDR, von Sehnsüchten und gelebten Träumen, als auch den Fallstricken, in die man schnell geraten kann, und dem Preis, den man bezahlen muss. Dies wird besonders am Beispiel des schwulen Visagisten Rudi deutlich, der nicht nur Suzie in die Szene einführt und ihr hilft, den Ansprüchen zu genügen, sondern der es liebt sich in aufreizenden (Frauen-)Kleidern zu zeigen und der regelmäßig dafür von der Stasi verhaftet wird.
In der Hauptrolle als Suzie glänzt die Neuentdeckung Marlene Burow, die Suzie von einer verunsicherten und ihren Gefühlen nicht trauenden jungen Frau zu einer starken und mutigen Persönlichkeit reifen lässt. Bei dieser Suche findet sie ein Gefühl von Freiheit, das ihr zur Heimat wird und das verhindert, dass sie wie viele Andere zu dieser Zeit die DDR verlassen will.
Sabin Tambrea ist als Rudi derjenige, der Suzie immer hilft und sie unterstützt. Tambrea spielt die Rolle niemals aufdringlich, aber man merkt ihm an, dass Rudi das Leben liebt und bereit ist sein Anderssein zu verteidigen und damit auch unter den Repressionen des Staates trotzdem seiner Überzeugung treu zu bleiben.
Die dritte wichtige Rolle ist der von David Schüttler gespielte Coyote, der seine wunderbaren Bilder nur unter einem Pseudonym in der Sibylle veröffentlichen kann, obwohl er deutlich außergewöhnlichere Fotos schießen kann als die offiziellen Fotografen. Er nimmt sich, was das Leben ihm gibt und wird am Ende aber eine Karriere im Westen seinen Freunden im Osten vorziehen.
Weitere Rollen werden von Claudia Michelsen als Dr. Elsa Wilbrodt, die strenge Chefkoordinatorin von VHB Exquisit und Chefredakteurin der Sibylle, die weiß, wie man mit dem Staatsapparat umgeht muss, und Jördis Triebel als Gisela, Suzies Brigadeleiterin im Kabelwerk, die ihre eigene Meinung über die sozialistische Engstirnigkeit hat, die immer wieder ihre Hand über die Kleene hält und sie vor den Angriffen der eifersüchtigen Frauenbrigade schützt. Letztendlich hilft sie Suzie, sich selbst zu finden.
Neben den offiziellen Modeschauen in der DDR gab es in Berlin auch eine freie Modekünstler- und Designerszene, die ein wichtiger Bestandteil des Films ist. Hier wurde eigenwillige Kleidung entworfen und mit Folien, Baumwollwindeln, Trödel, Angelschnüren, Daunen, Plastiktüten, Duschvorhängen, Lederresten, Velours und Gummi hergestellt. Ob es allerdings eine Modenschau, wie sie am Ende des Films gezeigt wurde, wirklich gegeben hat, mag fraglich sein. Aber sie ist ein toller Höhepunkt und Abschluss des Filmes.
Das Drama wurde von der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) mit dem Prädikat "Besonders wertvoll" ausgezeichnet, da der Film den Geist der Zeit mit solcher Natürlichkeit und Detailtreue wiedergibt, dass der Blick in das Jahr 1989 einer Zeitreise gleicht, die die Zuschauer in ihren Bann zieht.
Insgesamt gibt "In einem Land, das es nicht mehr gibt" einen interessanten Einblick in die Modeszene der ehemaligen DDR, in eine völlig unbekannte Welt, die man vermutlich weder als normaler Bewohner der DDR noch als "Westler" so gekannt hat. Das Drama fängt hervorragend das Zeitkolorit ein und gibt daneben auch den Darstellern ausreichend Raum, um sich zu entfalten. Es ist ein bewegender Film entstanden, den man sich sehr gut im Kino ansehen kann - auch wenn man mit der DDR abgeschlossen hat.
Foto 1: Rudi (Sabin Tambrea) und Suzie (Marlene Burow) © Tobis Film GmbH
Foto 2: Coyote (David Schütter) und Suzie (Marlene Burow) fliegen auf seinem Motorrad durch den Tag © Tobis Film GmbH
Foto 3: Elsa Wilbrodt (Claudia Michelsen) und Rudi (Sabin Tambrea) in der Sibylle Redaktion © Tobis Film GmbH
Info:
In einem Land, das es nicht mehr gibt (Deutschland 2022)
Genre: Drama, Historie, DDR, Mode
Filmlänge: ca. 100 Min.
Drehbuch und Regie: Aelrun Goette
Darsteller: Marlene Burow, Sabin Tambrea, David Schütter, Claudia Michelsen, Sven-Eric Bechtold, Jördis Triebel, Bernd Hölscher, Gabriele Völsch, Hannah Ehrlichmann, Sira Topic, Zoé Höche, Bernd Schneider u.a.
Verleih: Tobis Film GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 6.10.2022