Bildschirmfoto 2022 10 13 um 21.50.55Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 13. Oktober 2022, Teil 5

Mano Khalil

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ich wurde in einem kleinen kurdischen Dorf in der Nähe der Stadt Kamishli in Syrien geboren. Dort hatte ich mit sechs Jahren meinen ersten Schultag. Meine Gefühle waren an jenem Tag eine Mischung aus Freude und Angst. Ich habe mich darauf gefreut, die Schule zu besuchen und wie die Großen Hefte und Bücher zu bekommen. Gleichzeitig machte mir das Unbekannte auch Angst. Gleich am ersten Tag verbot uns der Lehrer, Kurdisch zu sprechen.

Ich blieb still. Am zweiten Tag zeigte mir der Lehrer ein Bild und fragte mich, was ich darauf sehe. Es war das Bild eines Apfels. Als ich spontan auf Kurdisch «Sêv» antwortete, war es für eine Minute still im Raum und der Lehrer begann so auf mich einzuschlagen, dass ich am Ende des Schultages mit geschwollenen Händen nach Hause ging. Die Schulen in Syrien damals waren kein Ort zum Lernen, sondern ein Ort, um Kinder nach den Idealen der Baath-Partei zu «erziehen». Erziehung auf Basis von Gehorsamkeit, Angst und Loyalität im Dienste des Diktators. Jeden Morgen standen wir im Schulhof wie «Lämmchen» in einer Reihe, mit gestreckter, rechter Hand und mussten einem schreienden Schüler antworten, der vor uns stand und Parolen rief.

Erst viel später habe ich verstanden, um was es bei diesem «Morgengeschrei» ging. Ich war nicht glücklich, dass ich jeden Morgen schwor, meine Seele und mein Blut für einen Diktator zu opfern. Die brutale und respektlose Behandlung durch die Lehrer löste in uns Schülern mit der Zeit große Aggressionen aus. Wir töteten Insekten, machten Pflanzen kaputt und behandelten einander auch nicht gerade sanft. Unbewusst suchten wir ein Ventil, um die in uns angestaute Wut rauszulassen. In den Schulen wurde hauptsachlich arabisch-sozialistischer Nationalismus gelehrt.

Wir wurden militärisch erzogen, damit wir später in den Kampf gegen Israel ziehen und Palästina befreien. Eigentlich wussten wir nicht, was Palästina ist, aber wir wagten uns nicht zu fragen. Bei den regelmäßigen Versammlungen im Schulhof wurden uns Messer in die Hände gedrückt, um eine Strohpuppe, welche die Juden symbolisierte, mit dem Messer zu attackieren und zu enthaupten. Dazu schrien wir: «Es lebe Hafis Assad, es lebe die Baath-Partei, Tod dem Staat Israel.» Unsere Väter haben bitter gelacht, als sie diese Übungen sahen. Ich konnte nie verstehen, warum in der Schule die Juden nicht respektiert wurden, denn ich mochte unsere jüdische Nachbarsfamilie sehr. Jakob, seine Frau Rosa und ihre Tochter Sarah haben mir immer wieder Geschenke gegeben, wenn ich ihnen an Schabbat die Lichter angezündet habe.

Die Familie Jakob war eine der letzten jüdischen Familien, die noch in Syrien lebten. Jakob hatte ein kleines Geschäft, in dem er Bonbons, Kopfschmerztabletten, Seifen, Haushaltsgeräte, Honig, Gift, Eier und auch Potenzmittel verkaufte. Jakob war der beste Verkäufer. Wenn eine Frau keine Kinder bekommen konnte, besuchte sie Jakob und bat ihn um seine Hilfe. Wenn jemand Krebs hatte, besuchte er Jakob und fragte ihn nach einer Lösung. Jakob hatte Lösungen für jeden und alles. Nur für sich selbst konnte er kein einfaches Rezept finden, um Syrien zu verlassen. Im Gegensatz zu den Arabern und den meisten Kurden in Syrien durften die syrischen Juden keine Reisedokumente oder Ausweise besitzen. Sie durften ihre Wohnorte unter keinen Umständen für mehr als drei Tage verlassen. Ihr Vermögen wäre sonst konfisziert worden.

Heute, vierzig Jahre später, gibt es keine Juden mehr in Syrien. Die politische Situation in weiteren Gebieten des Nahen Ostens ist verheerend. Wenn an unseren Schulen mehr Respekt gelehrt worden wäre - vor sich selbst, vor dem Mitmenschen und seinen Werten, seinem Glauben und seinen Prinzipien - dann würde heute mehr Freiheit, Freundschaft, Liebe und vor allem Frieden herrschen. Mit meinem Film will ich aufzeigen, dass es trotz all den Repressionen und der Unterdrückung durch das Regime heitere Momente im Leben der Menschen gibt und sich für einzelne möglicherweise ungeahnte Wege eröffnen.

Bildschirmfoto 2022 10 13 um 21.51.35REGISSEUR MANO KHALIL
MANO KHALIL (*1964 in Kamishly, Kurdistan) studierte zunächst Recht und Geschichte an der Universität Damaskus und anschließend Spielfilmregie an der Film- und Fernsehakademie in der ehemaligen Tschechoslowakei. Bis 1995 arbeitete er als freier Mitarbeiter beim tschechoslowakischen und slowakischen Fernsehen.
Da er in seinem Heimatland Syrien seinen Beruf nicht ausüben konnte und dort auch unter Beobachtung stand, flüchtete er in die Schweiz. Seit 1996 ist er dort als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent tätig und gründete 2012 die Filmproduktionsfirma Frame Film GmbH in Bern.

2021 Nachbarn
2018 Hafis & Mara
2016 Die Schwalbe
2013 Der Imker
2010 Unser Garten Eden


Foto:
©Verleih

Info:
NACHBARN (Neighbours)
von Mano Khalil, CH/F 2021, 124 Min.
mit Serhed Khalil, Jalal Altawil,, Jay Abdo, Zîrek, Heval Naif, Tuna Dwek
Drama / Start: 13.10.2022