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Frankfurt am Main (Weltexpresso) - „Die Geschichte muss auch für ein Publikum funktionieren, dem Xatar kein Begriff ist oder dem deutscher Hip-Hop scheißegal ist“, fasst Akin das Konzept zusammen. „Der Film soll ein autonomes Werk sein, das man frei von der Vorlage erleben kann. Gleichzeitig will ich aber seine Fans nicht verprellen. Das ist der Spagat, die Herausforderung, der erzählerische Ansatz.“
Und wie hat es sich für Giwar angefühlt, seine eigene Geschichte verfilmt zu sehen? Das Besondere bei der Sache sei Fatih: „Er bringt Sachen ein, an die ich gar nicht gedacht hätte. Er fängt an, bevor ich geboren bin, im Iran in der Vor-Mullah-Zeit, als es dort liberal war, Paris-Beirut-ähnlich. Immer kritisch, mit
politischen Ansätzen. So wie er mich auch in bestimmten Szenen nicht als Ehrenmann darstellt, wie es ja auch war, war für mich am Anfang neu. Es war auf jeden Fall ein sehr besonderer Moment, als ich das Drehbuch gelesen habe.“
Authentizität geht vor
Xatar findet es absolut wichtig, dass alles echt rüberkommt. Er meint, man schaue oft, ob man etwas macht, wie es war, oder ob man cooler sein könne, besser für die Audience. Von Fatih habe er gelernt, sich der Audience anzupassen sei der größte Fehler. „Bei Fatih ist es immer so, wie es war, wie es ist. Egal wie kompliziert oder schwer zu verstehen. Wenn er mich gefragt hat, ob es anders war, hat er das geändert, auch wenn am Set alles schon eingerichtet war. Er sagt, die Menschen spüren das. So viel Mut hat hier keiner.“
Wie nah ist der Film an seiner Lebensgeschichte dran? „Sehr nah“, sagt Giwar. „Das ist meine Lebensgeschichte. Es steckt natürlich nicht alles drin, das war die größte Challenge. Zeitlich sind ein paar Sachen anders, auch Charaktere und Orte. Aber von der Geschichte her ist am Ende mein Leben noch wahrer
geworden, als ich es selbst in Erinnerung hatte.“
Für den Regisseur war die Anwesenheit von Giwar am Set sehr hilfreich. „Denn auch wenn ich aus einem sozialen Brennpunkt komme, habe ich im Detail überhaupt keine Ahnung von Bonner Slang, Kokain dealen, Türstehern, Kurden, Deutschrap“, meint er. „Deswegen war es für mich fundamental, dass Giwar
immer am Set war. Ich konnte durch ihn eine ungemeine Glaubwürdigkeit kreieren – der Zuschauer taucht in seine Welt, weil ich in Giwars Welt eingetaucht bin – und zwar tief! Ich habe Dokumentarfilme gemacht und bin sehr flexibel im Kopf. Eine Crew, vor allem eine so große wie bei diesem Film, ist es nur bedingt. Wenn Giwar am Set war, war es so, als würde man mit einem Kreuzfahrtschiff Slalom fahren. Aber meine Crew hat sich als äußerst flexibel herausgestellt. Das waren alles ausgeschlafene Profis, mit allen Wassern gewaschen.“
Die Filmfigur und die dahinter ...
Wie es funktioniert, eine solche Echtheit herzustellen, ohne eins zu eins Giwars Leben nachzuerzählen, weiß der Regisseur selbst nicht so genau. „Ich habe kein wirkliches Rezept“, räumt Akin ein. „Viele meiner Entscheidungen sind instinktiv und aus dem Bauch heraus. Es war bei dem Film auch sehr wenig Zeit, um zu meditieren und dann Entscheidungen zu treffen; in allen Bereichen war nie genug Zeit: Drehbuch, Vorbereitung und letztendlich beim Dreh. Nur beim Schnitt haben wir uns die Zeit genommen, die so ein Film braucht. Ich kann vielleicht ein guter Zuhörer und Beobachter sein. Und ich respektiere die Menschen, von denen ich erzähle. Damit ist man eigentlich ganz gut gewappnet: mit Respekt und großen Augen und Ohren.“
Bei allem Respekt steht Giwar nicht immer als Ehrenmann da. „Je glaubhafter von Giwar erzählt wird, umso mehr ist der Zuschauer von der Figur überzeugt“, meint Akin. „Giwar ist Straße. Und er war kriminell. Das heißt, dass er seine Moral immer wieder über Bord geworfen hat – zu seinem eigenen Vorteil. Wenn Moral bedeutet, Leid zu verhindern, dann hat Giwar vielen Menschen Leid zugefügt. Aber heute ist er ein sich reflektierender Mensch. Jemand, der aus seiner Reflexion ein Geschäft gemacht hat. Und da kommen wir zusammen: Ich mache Filme über unmoralische Menschen, weil die nicht langweilig sind. Ich arbeite
schließlich in der Unterhaltungsindustrie.“
... und der Darsteller, der sie erstehen lässt
Genauestens analysiert hat ihn der Schauspieler, der die Figur zum Leben erweckt: Emilio Sakraya. Er hat Giwar lange beobachtet und Dinge an ihm bemerkt, die ihm selbst nicht bewusst waren. Dabei habe er „einen wahnsinnig vielseitigen Menschen kennengelernt“, so Emilio. „Es war sehr spannend, man kann ja
nicht oft jemanden so analysieren. Er hat total verschiedene Charaktere, Label-Chef, Privattyp, Rap-Star, der auf der Straße aufpassen muss, dass ihn nicht so viele Leute erkennen, weil er seine Ruhe haben will. Wenn er durch Bonn läuft, seine Hood, wo er großgeworden ist, läuft er anders. Es ist total faszinierend, jemanden so auseinanderzunehmen und zu gucken, was für Ticks er hat. Zum Glück war er total offen, ich konnte ihn alles fragen. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich ihn nicht gesehen habe – zum Beispiel wenn er ausrastet und jemanden schlägt. Trotzdem musste ich das spielen. Da waren dann Gespräche außerordentlich hilfreich. Es war wichtig, dass er aufmachen und mir erzählen konnte, wie das alles für ihn damals war.“
Emilio Sakraya ist nicht unbedingt der erste Name, der einem einfällt, wenn man an die Besetzung eines Rappers denkt. Rein optisch ist die Ähnlichkeit zunächst nicht zwingend. Einer allerdings war von Anfang an von ihm überzeugt, auch wenn er noch nicht über so viel Erfahrung mit derart komplexen Rollen verfügt. Akin sieht das anders: „Emilio war Kinderdarsteller, daher behaupte ich, dass er eben sehr viel Erfahrung mit jeder Art von Rollen hat. Er kennt den Beruf von klein auf und hat nur auf so eine Gelegenheit gewartet. Er ist ein Vollblutschauspieler, der wirklich Freude am Spielen und keine Angst hat. Und wenn, dann lähmt sie ihn nie, sondern macht ihn nur noch aufmerksamer. Emilio arbeitet mit einer Methode. Er kniet sich monatelang in die Vorbereitung, versucht mit seinem Körper, seiner Stimme und seiner Seele in die Rolle hineinzuschlüpfen. Emilio ist einer der Gründe, warum ich diesen Beruf mache. Ich glaube, dass solch ein Film Glamour fordert. Glamour hat man oder nicht. Kann man nicht lernen. Und Emilio hat es. Der Film ist meine Interpretation von Giwar. Meine Übersetzung. Und die erfüllt Emilio perfekt, weil es viel spannender ist, ihn in der Rolle zu sehen, als eine Imitation zu suchen. Denn Giwar ist einzigartig."