Bildschirmfoto 2022 12 12 um 04.12.54

Wiedergesehen, Wiedergelesen, Wiedergehört, Teil 1

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nein, man merkt es dem Film nicht an, daß er unter Coronabedingungen und ganz wenig Zeit gedreht wurde. Die Dreharbeiten fanden an 34 Drehtagen von August bis Oktober 2020 am Originalort im Tessin, auch im Piemont und in den Studios in Köln und Wien statt. Zum Film, seiner Geschichte, den Personen, die diese Freikörperkultur oder überhaupt Freiheitskultur im Film repräsentieren, kann man unterschiedlicher Meinung sein, aber daß dieser Film eine kulturgeschichtliche Tat ist, ist gewiß.

Denn kein Wort, kein Satz, keine Erzählung kann in derartig sinnlicher Art wie ein Farbfilm wiedergeben, was dieser Bewegung zugrundelag – und liegt. Denn, wie die Produzentin in den EXTRAS der DVD betont, hat sie, die den Berg, der eigentlich nur eine Anhöhe ist, MONTE VERITÀ zuvor nicht kannte, auf die Anregung des Regisseurs Stefan Jäger hin sofort erkannt, daß alle, aber auch wirklich alle Themen, die im Film eine Rolle spielen, auch heute eine Rolle spielen und warum dieser Ort für so viele ein Sehnsuchts- und Rettungsort wurde: Licht, Luft, Energie, Wegfall des Korsetts, Wegfall von Kleidung, Ernährung einschließlich der schon damals praktizieren veganen, Körperpflege, Funktion des Wassers innen und außen etc.

Das ist kein Dokumentarfilm über den MONTE VERITÀ, der ja denkbar ist, sondern ein Spielfilm, der einer fiktiven Person in ihrem engen, wenngleich durchaus großbürgerlichen Ambiente in Wien keine Luft mehr läßt, weshalb die für Luft und Licht bekannte Stätte am MONTE VERITÀ ein Ausweg scheint. Es ist die 29jährige Hanna Leitner (Maresi Riegner, sehr gut ausgesucht, denn sie wirkt wirklich wie von damals), die von ihrem Ehemann Anton (Philipp Hauß), einem angesagten Porträt-Fotografen mit Atelier, nach zwei Töchtern zur Zeugung eines Sohns genötigt wird. Sie hat mit ihm sowieso einen, der den Weg der Familie und ihren eigenen dominiert und kontrolliert. Ihr Arzt ist Otto Gross – eine historische Figur und was für eine und wir müssen uns jetzt sehr zurückhalten, um nicht dessen Funktion, seine Ansichten und die Wirkung auf Wissenschaft und Gesellschaft ausführlich zu würdigen, sondern ihn nur als wesentlichen Mitspieler im Film anzusehen. Otto Gross (Max Hubacher) also ist von Hanna Leitner als Psychoanalytiker konsultiert worden und sie weiß von ihm vom MONTE VERITÀ und auch, daß er selber sich dort erholen will und ergreift nach einer Attacke ihres Mannes eine Tasche, packt wahllos etwas ein und fährt mit dem Zug in die Schweiz.

Mit ihren Augen lernen wir diese Stätte kennen, wo ihr zwei Frauen gleichzeitig die Bandbreite des Idylls vermitteln. Das ist zum einen die offizielle Initiatorin Ida Hofmann (Julia Jentsch), die als Leiterin des Sanatoriums und Pianistin eine stabile Größe ist und Lotte Hattemer (Hannah Herzsprung), eine verwirrte, ja ernsthaft psychiatrisch Erkrankte, die genau deshalb aber die Stimmung und Erhabenheit des Ortes besonders wahrnimmt.

Die eben doch sehr bürgerliche Hanna Leitner ist entsetzt. Sie sieht lauter Nackerte, die in exzentrischen Posen um Feuerstellen herumtanzen. Sie will sofort nach Hause. Doch der Zug geht erst am übernächsten Tag und bis dahin haben die Stunden mit Lotte und die Sicherheiten, die Ida vermittelt, die Oberhand gewonnen. Mit ihr lernen wir jetzt die Bewohner kennen, deren Rituale, die Tagesabläufe, aber auch den Wald, das Wasser, die Bäume etc. Und die Gespräche, die sie führen.

Sie bekommt auch mit, daß ihr verehrter Dr. Gross drogensüchtig ist und hier seinen Entzug versucht. Er ist gerne der Hahn im Korb und sie wischt ihm nach einem Beischlaf, der ihr viel bringt, mit der Aussage, er würde professionell mit allen seinen Patientinnen schlafen, eins aus. Im Film wird das- wie gesagt fiktive - Geschehen mit und um Hanna mit den Möglichkeiten und historischen Ereignissen von MONTE VERITÀ verquickt. So kommt auch Hermann Hesse (Joel Basman) und auch Isadora Duncan (Eleonora Chiocchini) ins Spiel, deren Tanzleidenschaft ausdrücken soll, welche schöpferischen Kräfte hier freigesetzt werden.

Parallel begleitet den Film von Beginn an ein zweites Thema. Schon in Wien hat Hanna heimlich mit einer eigenen Kamera Aufnahmen gemacht, die ihr Mann entdeckt und zerrissen hatte. Hier werden es vor allem die Bewegungsfotografien werden, die sie perfektioniert und die ihr ihren eigenen Weg zeigen. Sie wollte hier Kraft schöpfen, um ihn Wien ihre Rolle bestehen zu können. Aber jetzt wird sie ihren Mann und damit auch ihre sehr gehemmten und konservativ gezeigten Töchter verlassen und eine eigene Karriere als künstlerische Fotografin starten.

Was außerhalb der privaten Geschichte bleibt, sind die kulturgeschichtlichen Beweggründe, die im festgezurrten Kaiserreich Menschen zu Aussteigern in Luft und Licht motivierten.

Fotos:
©Verleih

Info:
MONTE VERITÀ – Der Rausch der Freiheit

Stab
Regie           Stefan Jäger
Drehbuch    Kornelija Naraks


Besetzung
Maresi Riegner: Hanna Leitner
Joel Basman: Hermann Hesse
Hannah Herzsprung: Lotte Hattemer
Max Hubacher: Otto Gross
Julia Jentsch: Ida Hofmann
Philipp Hauß: Anton Leitner
Daniel Brasini: Lucio
Tiana Distefano: Helene Leitner
Alina Distefano: Marie Leitner
Eleonora Chiocchini: Isadora Duncan

DVD von DCM
Laufzeit :116 Minuten
Bild: 1:2, 40
Ton: Dolby Digital 5.1
Sprache: Deutsch
Untertitel: Deutsch (barrierefrei) 

Bemerkung der Redaktion
Immer wieder einmal beginnen wir, WELTEXPRESSO, eine Serie mit DVDs, Büchern, CDs, die gerade gestern noch das Aktuellste waren und angesichts der Flut von Neuerscheinungen einfach nicht mehr in der Presse erscheinen. Die Auswahl ist zufällig und speist sich entweder aus dem, was liegen blieb oder was einzelnen besonders wichtig war und ist.