Wiedergesehen, Wiedergelesen, Wiedergehört, Teil 2
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kein Wunder, daß man aus den DVDs, hier den Blu-rays, sich sofort diese heraussucht, bei dem Wunsch, einen Film wieder zu sehen. Ryusuke Hamagucki verfilmt eine Erzählung, erzählt einen Film, der so vielschichtig ist, auch mit so vielen Details und Anmutungen, die einer überschaubaren Anzahl von Menschen in Japan zustoßen, daß viel Rätselhaftes bleibt, was ja nur heißt, daß das Leben Rätsel aufgibt, die man gar nicht alle lösen kann und stattdessen lieber leben soll. Mit Rücksicht auf andere, aber auch gegenüber sich selber.
Daß dieser Film in Cannes 2021 alle möglichen Preise gewann, den Oscar 2022 für den besten nicht-englischsprachigen Film und eine unglaubliche Anzahl von Preisen aller möglichen Festivals soll hier nur angeführt werden, weil es dazu gehört, aber nötig hat der Film all die Lobpreisungen nicht, weil er zu den Kunstwerken gehört, die aus sich selbst sprechen. Man muß sich nur darauf einlassen und die 179 Minuten zuschauen und zuhören. Diese Filmversion hat den originalen Sound mit deutschen Untertiteln; selten kann man so viele Sprachen und Nichtsprachen in einem Film erleben, was seine Berechtigung aus der Theateraufführung Onkel Wanja nimmt, in der die Darsteller sich in unterschiedlichen Sprachen anreden und sogar – und das ist sehr bewegend – eine Taubstumme mit Gebärdensprache agiert.
Bleiben wir bei Tschechows Theaterstück ONKEL WANJA, als roter Faden im Geschehen. Erst sehen wir Yūsuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima), der auf der Bühne im Stück selbst den Onkel Wanja spielt. Im beiliegenden Booklet wird der Regisseur berichten, daß er aus der rund 50seitigen Kurzgeschichte für einen runden Film sehr viel hinzufügen mußte. Deshalb hat er das Stück geradezu ausgeschlachtet , sowohl für die gemeinsamen Proben auf der Theaterbühne oder im Kreis, aber auch für die privaten Proben, so daß viele Textstellen mehrfach ertönen. Denn Kafuku ist von einer ganze besonderen Kulturinstitution eingeladen, mit einem ausgewählten Personenkreis die Aufführung von ONKEL WANJA zu inszenieren und intensiv zu proben.
Aber von vorne. Denn zwischen den beiden Wanjaaufführungen liegt das private Drama von Kafuku und seiner Frau Oto (Reika Kirishima). Erst glaubt man an eine innige Beziehung der beiden, was auch nicht falsch ist, aber die latente Traurigkeit, die über der Szene liegt und sich in den sanften Worten und den traurigen Gesichtern der Eheleute zeigt, hat ihren Grund im Tod der vierjährigen Tochter vor 17 Jahren. Oto braucht die Bestätigung vieler Männer, auch sexuell, was Kafuku durch Zufall mitbekommt, aber schweigt. In ihrem Kopf laufen unaufhörlich Geschichten ab, die sie ihm beim Liebesspiel oder im Auto erzählt, aber auch ihrem jugendlichen Liebhaber. Und dann liegt sie auf einmal tot auf dem Boden, als er abends nach Hause kommt. Beerdigung. Schnitt. Aber was für einer!
Erst jetzt läuft der Vorspann mit allen Angaben und die Geschichte nimmt einen anderen Verlauf. Kafuku hat das Angebot dieser Stiftung, ONKEL WANJA aufzuführen, angenommen und findet unter den Bewerbern den jugendlichen Liebhaber seiner Frau. Dem schustert er nach den ersten Proben die Rolle des Wanja zu, was diesen erst einmal überfordert, aber er nimmt die Provokation an. Neben den Proben, die auch im Freien stattfinden und überhaupt sehr vielseitig sind und viel über die Darsteller persönlich aussagen, geht es auch um die menschliche Beziehung, die sich zwischen Kafuku und seiner Fahrerin Misaki Watari (Toko Miura) entwickelt. Erst hat er sie nicht akzeptiert, weil er mit Absicht eine Unterkunft eine Stunde vom Theater entfernt genommen hatte, weil er gewohnt ist, beim Autofahren seine Rollen oder eben alle Rollen eines Stückes durch ständiges Hören auswendig zu lernen. Aber die Stiftung darf ihn nicht fahren lassen, also akzeptiert er die junge Frau, die sehr gut fahren kann und ihm auch die Gründe dafür nennt. Die haben mit ihrer Mutter zu tun, die bei einem Erdrutsch des Hauses umkam – und die sie hätte retten können, wie sie Kafuku nach vielen Tages- und Nachtfahrten gesteht.
Daß der junge Takatsuki dann auch noch verhaftet wird, weil der Mann, mit dem er eine körperliche Auseinandersetzung hatte, stirbt, überfrachtet eigentlich die Geschichte, aber das ist ab irgendwann egal, denn man hätte diesen Film noch weitere hundert Minuten angeschaut, weil er einem Gefühl nachgibt, das wir alle haben: daß das Leben doch mehr ist als nur Arbeit und Vergnügen. Ob es nun heißt: „Früher war mehr Lametta“ oder ‚Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.‘, auf jeden Fall läßt der Film uns in andere Dimensionen gleiten.
Foto:
Umschlagabbildung
Info:
Regie Ryūsuke Hamaguchi
Drehbuch Ryūsuke Hamaguchi, Takamasa Ōe
Darsteller:
Yūsuke Kafuku Hidetoshi Nishijimadae
Misaki Watari Tōko Miura
Kōji Takatsuki Masaki Okada
Oto, Kafukus EhefraurDReika Kirishimam Ki
no?
DRIVE MY CAR by Rapid Eye Movies Nr. 25, 4260017068424
Extra: 24seitiges Booklet, Postkartenset, DVD und Blu-ray