Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 22. Dezember 2022, Teil 3
Margarete Frühling
München (Weltexpresso) – Lucien Chardon (Benjamin Voisin) versucht sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Provinzstädtchen Angoulême als Dichter. Sein Schwager und seine Schwester betreiben eine kleine Druckerei, doch Lucien fühlt sich dort fehl am Platz. Er hat ein heimliches Verhältnis mit der älteren verheirateten Louise de Bargeton (Cécile de France). Als Louises Ehemann von der Liebelei erfährt, flüchtet Louise nach Paris. Lucien nutzt die Gelegenheit Angoulême zu verlassen. Er möchte in Paris als Dichter Fuß fassen – auch mit Hilfe seiner Geliebten als seine Mäzenin.
Gleichzeitig möchte Lucien erreichen, dass er den adligen Namen seiner Mutter de Rubempré offiziell annehmen darf. Daneben versucht Louise den jungen Mann der Pariser höheren Gesellschaft näher zu bringen, doch die Marquise d'Espard (Jeanne Balibar) verhindert das nach einer Intrige des Baron du Châtelet (André Marcon) und Lucien landet erst mal als Kellner in einer Bar.
Dort trifft der junge Mann auf Etienne Lousteau (Vincent Lacoste), den windige Chefredakteur einer auflagenstarken liberalen Zeitung. Lucien erkennt, dass sich hier mit dem Schreiben viel Geld verdienen lässt. Schnell avanciert Lucien zu dem Journalisten des Blattes, der dafür bekannt ist, gefürchtete Theaterrezensionen zu veröffentlichen. Gleichzeitig zeigt sich, dass bei Theateraufführungen das Publikum gekauft werden kann – damit es entweder applaudiert oder das Stück ausbuht, je nachdem wer mehr bezahlt. Denn Singali (Jean-François Stévenin) leitet eine Gruppe von Theaterbesuchern, die je nach Bedarf (und Bezahlung) applaudiert, buht, mit Blumen oder Tomaten wirft - so kann er jedes neue Stück entweder zum Erfolg oder Misserfolg machen, völlig unabhängig davon, was auf der Bühne geschieht und wie gut oder schlecht die Stücke und die Schauspieler sind.
Lucien lernt Dauriat (Gérard Depardieu) kennen, den wichtigsten Verleger der Stadt, einen früheren Obsthändler, der selbst weder Schreiben noch Lesen kann. Dauriat verspricht ihm, als Schriftsteller sein erstes Buch voller Prosa herauszubringen, das sich allerdings dann doch etwas hinzieht. Lucien lernt rasch die wahren Mechanismen der Macht hinter den Kulissen kennen. Er erkennt, dass in Paris alles käuflich ist, darunter auch literarischer Erfolg, die Presse, Politik und sogar die Gefühle.
Der junge aufstrebende Journalist wird jetzt zu jeder Feier selbst in der gehobenen Gesellschaft eingeladen – allein schon deshalb, weil selbst die Reichen und Einflussreichen plötzlich Angst vor ihm und seiner spitzen Feder haben. Doch der Erfolg provoziert Neid und Missgunst – vor allem da Lucien sich angreifbar macht, denn er hat immer noch einen Groll auf die Aristokraten und möchte nun endlich auch offiziell den Namen seiner toten Mutter annehmen, um als adliger Lucien de Rubempre zur Oberschicht zu gehören.
Dann verliebt sich Lucien in die bildschöne Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), damit wendet sich das Blatt und es folgt ein Rückschlag nach dem anderen. Coralie leidet an Schwindsucht, was sie ihrem Geliebten verschweigt. Sie aber bereit, ihr ganzes Geld in Luciens Karriere zu investieren.
Doch jetzt zeigen sich Lucien die wahren Mechanismen der gesellschaftlichen Macht und er muss erkennen, dass sein früherer Ruhm ihn und Coralie nicht davor schützt, von der Pariser Oberschicht fallengelassen zu werden. Letztendlich muss sich Lucien entscheiden, welchen Weg er weiterhin gehen will und ob er sein schriftstellerisches Talent wirklich nutzen möchte…
Regisseur von ″Verlorene Illusionen″ ist Xavier Giannolis. Er hat auch zusammen mit Jacques Fieschi das Drehbuch verfasst. Als Vorlage diente ihnen Honoré de Balzacs dreiteiliger Roman Illusions perdues (dt. Titel: Verlorene Illusionen), der zwischen 1837 und 1843 entstandenen ist. Das Filmdrama feierte seine Weltpremiere 2021 im Wettbewerb um den Goldenen Löwen der 78. Internationalen Filmfestspiele von Venedig, konnte dort aber nicht gewinnen. Giannolis hat sich nach eigenen Angaben beim Originaltext viele Freiheiten herausgenommen, um dessen Geist auf die Kinoleinwand zu bringen. So hat er z.B. die Teile herausgelassen, die sich mit den finanziellen Problemen von Luciens Schwester und Schwager durch deren Unterstützung befassen und auch einige der Charaktere sind etwas weniger boshaft als im Roman.
Balzacs Roman übt bekanntlich eine harsche Kritik an der nachnapoleonische Pariser Gesellschaft, in der Royalisten und Liberale um die Macht ringen und sich gegenseitig versuchen über reale und gefälschte Nachrichten auszustechen. Da Xavier Giannolis die Pariser Begebenheiten und journalistische Arbeit in dieser Ära intensiv beschreibt, kann man darin auch als zeitgenössische Gesellschaftskritik erkennen, die aber auch sehr starke Bezüge zur heutigen Medienlandschaft hat, denn auch dort geht es nicht selten um Moden, Gerüchte, Lügen und Skandale.
Der Regisseur lässt den Film im einer Art Rahmenhandlung spielen, denn von Anfang an gibt es einen Erzähler, der das Geschehen aus dem Off kommentiert und pointierte Hintergründe liefert, die Charaktere vorstellt und die Entwicklungen bewertet. Außerdem spricht der Film zwei Themen an, die sich immer wieder überschneiden und zwar die Arroganz der adligen Oberschicht, die auf die Bürger herabsieht, dabei von Lucien das Geld nimmt, aber verhindert, dass er seinen Anspruch auf den Titel seiner Mutter durchsetzten kann und auf der anderen Seite die korrupten Journalisten, Zeitungsbesitzer, Theaterdirektoren etc.
Auch wenn die Entwicklung und die Probleme von Lucien Chardon im Mittelpunkt stehen, ist der zentrale Punkt die Entstehung einer Journalisten-Kaste, der es wichtiger ist, mit ihren Zeitungen die Auflagen zu erhöhen, als sich an die Wahrheit zu halten. Denn durch die neuen Druckverfahren ist es möglich, dass man seine Meinung sehr schnell weit verbreiten kann. Das führt dazu, dass die Journalisten wissen, dass sie korrupt sind und sie sind stolz drauf, denn auch so kommt man rasch zu viel Geld.
Lucien lernt schnell wie man den Lesern nach dem Mund schreibt, aber auch wie es bei den Pariser Theatern wirklich zugeht. Denn die Theaterkonkurrenz bezahlt für Claqueure, die je nachdem wer mehr bezahlt hat entweder Blumensträuße oder Tomaten werfen. Das gilt nicht nur für die Theaterleiter, sondern auch für die Schauspielerinnen, die sich immer wieder den Männern andienen müssen.
″Verlorene Illusionen″ ist ein hervorragend gestaltetes Historiendrama mit allen was der Zuschauer vom frühen 19. Jahrhundert erwartet wie Kutschfahrten, große Bälle, Soireen oder Theaterabende, bei denen man seine teuren Kleider ausführt und dem neusten Klatsch lauscht, alles wunderbar gefilmt von Kameramann Christophe Beaucarne.
Da Regisseur Xavier Giannoli auch auf ein hervorragendes Schauspielerensemble zurückgreifen konnte, ist ein ziemlich kurzweiliger und auf jeden Fall sehenswerter Film entstanden. Besonders hervorzuheben sind dabei der junge Benjamin Voisin als naiver Lucien Chardon, Vincent Lacoste als durchtriebener Redakteur Etienne Lousteau, Cécile de France als Luciens erste Geliebte Louise de Bargeton, Xavier Dolan als Raoul Nathan, der sehr zurückgenommen die Erlebnisse beobachtet und kommentiert, sowie Gérard Depardieu in einer kleinen Rolle als Dauriat, der illiterate Verleger und ehemalige Obsthändler.
Auch wenn ″Illusions perdues″ nicht den Goldenen Löwen bei der Premiere 2021 in Venedig gewinnen konnte, erhielt der Film bei den 47. César-Verleihungen 2022 insgesamt 15 Nominierungen in 13 Kategorien. Damit ist er der Film mit den meisten Nominierungen in der Geschichte der renommierten französischen Preisverleihung. Die Literaturverfilmung war mit sieben Awards auch der große Gewinner. Das Drama wurde als bester Film ausgezeichnet, außerdem gewannen u.a. Jacques Fieschi und Xavier Giannoli für das bestes adaptierte Drehbuch, Vincent Lacoste als bester Nebendarsteller, Benjamin Voisin als bester Nachwuchsdarsteller sowie Christophe Beaucarne für die beste Kamera.
Insgesamt ist ″Verlorene Illusionen″ ein spannender Film, der wunderbar Honoré de Balzacs Roman zwar im Historiengewand aber inhaltlich sehr modern umgesetzt hat. Dies gilt sowohl für den Neid, die Missgunst oder den Standesdünkel einer Gruppe von Menschen, die sich für etwas Besseres hält, der verbissene Kampf der Theaterdirektoren und ihrer Schauspieler um die Gunst der Zuschauer als auch die verlogenen Artikel der käuflichen Journalisten (heute sagt man wohl Fake News dazu). Das macht die Literaturverfilmung mit seiner aktuellen Medien- und Gesellschaftskritik ziemlich kurzweilig und auch unbedingt sehenswert.
Foto 1: Louise de Bargeton (Cécile de France) und Lucien Chardon (Benjamin Voisin) © Cinemien
Foto 2: Etienne Lousteau (Vincent Lacoste, l.) und Lucien Chardon (Benjamin Voisin) © Cinemien
Foto 3: Dauriat (Gérard Depardieu) © Cinemien
Foto 4: v.l.n.r.: Lucien Chardon (Benjamin Voisin), Coralie (Salomé Dewaels), Baron du Châtelet (André Marcon), Raoul Nathan (Xavier Dolan) und Louise de Bargeton (Cécile de France) © Cinemien
Info:
Verlorene Illusionen (Frankreich 2021)
Originaltitel: Illusions perdues
Genre: Drama, Romanze, Literaturverfilming
Filmlänge: ca. 149 Min.
Regie: Xavier Giannoli
Drehbuch: Jacques Fieschi, Xavier Giannoli nach dem dreiteiligen Roman Verlorene Illusionen (frz. Illusions perdues) von Honoré de Balzac (1837 bis 1843)
Darsteller: Benjamin Voisin, André Marcon, Cécile de France, Gérard Depardieu, Jean-François Stévenin, Jeanne Balibar, Salomé Dewaels, Vincent Lacoste, Xavier Dolan u.a.
Verleih: Cinemien Deutschland, Pro-fun Media GmbH
FSK: ab 12 Jahren
Kinostart: 22.12.2022