Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie sind Sie bei der Adaption vorgegangen? Gab es ein erstes Bild, von dem Sie ausgingen?
Aron Lehmann: Weniger ein Bild, mehr ein Gefühl. Um den beschriebenen Kern habe ich die Geschichte
herumgepuzzelt. Wichtig war mir, an dem Ton und dem Gefühl des Romans festzuhalten. Sonst hätte es
keinen Sinn ergeben. Hätte ich gemerkt, dass ich das, was mich berührt, nicht auf die Leinwand bringen
kann, hätte ich davon die Finger gelassen. Deshalb war mir im Drehbuchprozess stets Marianas Feedback
wichtig, unser Pingpong-Spiel bei Fragen zur Veränderung der Struktur, ob ich eine Szene im Roman im Film
einer anderen Figur zuschreiben kann. Ich habe jede Szene auf diesen Kern von Liebe und Tod, von
Vergänglichkeit und Neuanfang abgeklopft. Nur so hat man eine Chance, dieses Gefühl, das der Roman
auslöst, in ein anderes künstlerisches Medium zu übersetzen.
Was war Ihr Impetus beim Schreiben des Romans, Frau Leky?
Mariana Leky: Im Grunde das, was Aron als Kern beschrieben hat. Ich hatte erst die sehr schwammige
Idee, etwas über Liebe und Tod zu schreiben, wobei ich mir im nächsten Schritt überlegen musste, wie ich
diese Schwammigkeit konkreter machen kann. Ich habe dann Luise erfunden, eine Hauptfigur, die vor der
Liebe genauso viel Angst hat wie vor dem Tod. Das war ein Kern der Geschichte. Wenn man erst mal eine
Figur hat, kommen die anderen dazu. So ein Kosmos gestaltet sich wie ein Mobile, wenn sich eine Figur
bewegt, müssen sich die anderen auch bewegen. Das umspannende Thema Liebe und Vergänglichkeit
habe ich nie aus dem Auge verloren. Das offenbart sich auch an den beiden Liebesgeschichten, die ich
erzähle, zwischen dem Optiker und Selma und zwischen Frederik und Luise. Mir wurde sehr schnell klar,
dass man über Liebe nichts erzählen kann, wenn man nicht auch den Tod miterzählt.
Das sind ja die ganz großen Themen...
Mariana Leky: Genau! Damit ich mich das trauen konnte, habe ich diese ganz großen Themen in ein ganz
kleines, überschaubares Dorf gesetzt, dessen Örtlichkeit ich mir sehr vertraut gemacht habe. Das hat mir
das nötige Selbstbewusstsein gegeben. Es gibt natürlich auch noch andere Gründe für den überschaubaren
Ort. Aber das war einer davon.
Die Geschichte lebt von Figuren mit Hang zu Merkwürdigkeiten. Sie wirken
märchenhaft, da ist die gute alte Großmutter, der unterschätzte Optiker, die
abergläubische Elsbeth, die mürrische Marlies... Ist es besonders reizvoll, derartige
Figuren in einem Film inszenieren zu dürfen?
Mariana Leky: Aron, wenn ich hier vorgreifen dürfte. Ich höre oft, dass meine Figuren – im positiven Sinn –
skurril sind. Ich bin sogar schon „Skurrilitätsbeauftragte“ genannt worden. Das ist schön und gut. Ich finde
meine Figuren aber gar nicht so besonders skurril, was vielleicht einiges über meine eigene Skurrilität
aussagen mag. Jemand sagte kürzlich zu mir, dass die Menschen in meinem Buch einfach so sein dürfen,
wie sie sind - das trifft es für mich ganz gut. Wenn Menschen so sein dürfen, wie sie sind, hat jeder in
irgendeiner Form etwas Merkwürdiges an sich. Wenn man Figuren einfach laufen lässt und sie mit einem
freundlichen Blick in ihren ganzen Facetten zeigt. Genau das ist Aron bei der filmischen Umsetzung
gelungen. Natürlich stimmt es nicht, dass er die Figuren einfach laufen lässt. Aber man hat den Eindruck,
dass sie vollkommen selbstverständlich da sind in dem Film und mit einem liebevollen Blick betrachtet
werden. Man kann das skurril nennen und kann sagen, jeder hat wie ein Blaulicht eine Merkwürdigkeit auf dem Kopf. Aber ich würde das anders sehen. Für mich hat das nichts von Kasperletheater, in dem eine
Figur auf eine bestimmte Eigenart reduziert wird.
Aron Lehmann: Mir geht es zu 100 Prozent wie Mariana. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir uns
so gut verstehen. Ich stamme aus einem kleinen Dorf und da hat jeder seine Eigenheiten. So ist mein Blick
auf die Welt. Wenn wir uns selbst von außen sehen würden, sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, eine
tragische Komödie. Es ist nicht so, dass wir die ganze Zeit würdevoll handeln und immer in den richtigen
Momenten das Richtige tun. In der Wirklichkeit ist eher das Gegenteil der Fall. Wir befinden uns in einer
ständigen Überforderung, und diese Überforderung bringt uns in Situationen, in denen wir falsch handeln,
etwas Seltsames tun oder uns in etwas zurückziehen, wo wir uns sicher fühlen. Ab dem Moment wird es
einfach richtig lustig. Das ist auch ein Aspekt, der mich an Marianas Roman sofort gepackt hat. Vielleicht
liegt das an meiner ländlichen Herkunft. Dieses Zurückziehen in die eigene Sicherheit und dieser Mut, da
rauszugehen, kann nur kommen, wenn du weißt: Jetzt tickt die Uhr, morgen ist es vorbei. Mit diesem
Geniestreich stellt Mariana alle bloß. Wenn wir alle vor der Situation stehen würden, dass man womöglich
nur noch 24 Stunden zu leben hat, was würden wir plötzlich tun? Wir würden die Dinge machen, die uns
wirklich wichtig sind, obwohl wir ein Risiko eingehen zu scheitern. Das ist genial. Der Okapi-Traum bringt
ein märchenhaftes Element hinein. Aber das Märchenhafte passiert für mich schon mit den Menschen, die
ich als so wahrhaftig wahrgenommen habe, als selbstverständlich. Ich würde die Figuren eher als originell
bezeichnen. Und originell sind wir am Ende alle.
Ist dieser Stoff ein Geschenk für einen Filmemacher?
Aron Lehmann: Für mich war es ein totales Geschenk. Als ich das Buch gelesen habe, wusste ich, dass es
einen Nerv trifft, meine kreative und künstlerische Ader pochen lässt. Ich hatte das Gefühl, diese Sprache zu
sprechen, so zu sprechen, dass ich sie in ein anderes Medium übertragen kann. Es war wirklich ein Traum,
auch die Drehbucharbeit. Der Roman offenbarte sich als riesiges Fass an wunderschönen Szenen, Ideen,
Figuren und Geschichten, die ich neu interpretieren durfte.
War es auch besonders reizvoll, Ihre Schauspielerinnen und Schauspieler in so unterschiedlichen Figuren inszenieren zu dürfen?
Aron Lehmann: An der Arbeit des Filmemachens, am kreativen Prozess liebe ich so sehr, dass es sich nicht
nur um meine kreative Vision handelt. Beim Film ist es immer die kreative Vision vieler. Figuren entstehen. Ich
gehe nicht zu meinen Schauspielern und sage, du musst das genau so und so spielen. So kann eine Figur
nie echt sein. Man braucht immer einen Schauspieler, der eine eigene Beziehung zu seiner Figur hat. Das
will ich auch, das interessiert mich. So entsteht das Gemeinsame. Man hat eine Vorlage, eine Inspiration und
entwickelt auf deren Grundlage gemeinsam diese Figur. Das ist ein Prozess, ein Weg, der nicht vom ersten
Drehtag exakt abgesteckt ist. Ich habe bei allen meinen Filmen das Gefühl, dass ich die ersten drei Tage
aus Prinzip gerne noch mal drehen würde. Figuren müssen erst gefunden werden. Der ein oder andere
Leser mag sich die oder jene Figur vielleicht anders vorgestellt haben. Aber ich glaube, wenn man diesen
Weg gemeinsam geht, und die Schauspielerinnen und Schauspieler miteinbezieht, werden die Figuren am
Ende auf jeden Fall echt.
Mariana Leky: Ich finde auch, dass der Film sehr organisch wirkt, wie aus einem Guss. Mein Buch diente als
eine Art Materialkiste. Arons Werk ist ganz nah am Buch, aber trotzdem total eigenständig. Es gibt diese
gemeinsame Sprache, die den Film durchweht. Aber gleichzeitig steht er für sich alleine. Mich frappiert,
beziehungsweise ich finde es magisch, dass Aron es geschafft hat, den Ton meines Buchs zu verfilmen. Das
hätte ich nicht für möglich gehalten!
Aron Lehmann: Ich habe viele Lieblingsszenen. Oder auch Lieblingsmomente. Sehr intensiv sind mir die
Arbeiten an der Szene, als der Optiker am Ende die Briefe zu Selma bringt und sie ihr vorliest in
Erinnerung. Für diese Szene hatten wir zwei komplette Drehtage. Die haben wir miteinander weinend und
schluchzend verbracht. Ich konnte meine Regieanweisungen teilweise kaum aussprechen, weil ich völlig
tränenüberströmt war. Luna heulte bei den Proben schon immer Rotz und Wasser. Nach der Mittagspause
des ersten Tages dieser Szene lief mein Kameramann mit mir zurück zum Set und sagte: Aron, ich kann da
jetzt nicht mehr rein. Das sind ja wie zwei Tage Beerdigung meines besten Freundes. Es hat uns alle
emotional aufgesogen und mitgenommen, wie ich das noch nie erlebt habe. Und ich hoffe, dass es uns
gelungen ist, dass das, was wir dort gefühlt und erlebt haben, sich auf der Leinwand widerspiegelt und
wiederfindet. Es sind keine bitteren Tränen, die wir vor und hinter der Kamera vergossen haben. Sondern
warme Tränen voller Liebe und Zuneigung. Und sicherlich auch Trauer. Aber die gibt es nur, wenn davor
die Liebe da war.
Mariana Leky: Das war auch eine meiner Lieblingsszenen. Ich liebe aber auch die Szene kurz davor,
beziehungsweise steckt die da mit drin. Und zwar, wenn der Optiker entschlossen losläuft und die Briefe
holt und er in seinem Optikerladen steht, mit Kippe im Mundwinkel, und diese vielen Briefe entgegen seiner
fürchterlichen inneren Stimmen einfach in den Koffer packt. Das ist mir sehr nah gegangen, weil es sich um
solch einen puren Aufbruch handelt, von so viel Mut erzählt. Ich mag auch die Szene, als die kleine Luise
zum kleinen Martin sagt: Du weißt, dass ich dich eines Tages heiraten werde. Und er auf seine
unvergleichliche Art sagt: Wen denn sonst? Das hat mich fast zum Weinen gebracht – weil es so schön
war.
Foto:
Karl Markovics
©KleineZeitung
Info:
DARSTELLER
Corinna Harfouch
Luna Wedler
Karl Markovics
Rosalie Thomass
Benjamin Radjaipour
Hansi Jochmann
Peter Schneider
u.v.va.
STAB
Regie: Aron Lehmann
Drehbuch: Aron Lehmann / nach dem gleichnamigen Roman von Mariana Leky
WAS MAN VON HIER AUS SEHEN KANN
Genre: Drama
Produktionsjahr: 2022
Produktionsland: Deutschland
FSK: Freigegeben ab 12 Jahren
Lauflänge: 109 Minuten
Kinostart: 29.12.2022