berlinaleschanSerie: 73. Internationale Filmfestspiele Berlin vom 16.– 26.02.23, BERLINALE, Wettbewerb 11

Claudia Schulmerich

Berlin (Weltexpresso) – Wie man am Beifall nach der Pressevorführung von MUSIC hören konnte, gibt es genug Enthusiasten für die Filme der Angela Schanelec. Dies stelle ich gerne voran, weil ich meine großen Schwierigkeiten damit habe. Das fängt schon damit an, daß alle vom Ödipus-Motiv redeten, ich aber gar keines entdecken konnte. Gut, man kann auch die Mutter, die man versehentlich mordet, als Ödipusopfer sehen, aber dann muß doch ein Motiv für den Mord gewesen sein, denn das Tragische an der Ödipusfigur ist doch gerade, daß er nicht weiß, daß es die eigenen Eltern sind. Mit Vater oder Mutter wäre ich da großzügig.

 

Ich hatte wunderschöne Naturaufnahmen gesehen, einen sich zuziehenden Himmel über kargen Bergen. Das ist im Süden, das sieht man gleich, nachher weiß man, daß es Griechenland ist. Sein soll, ich auf jeden Fall habe auch die serbokroatische Küste von damals gesehen! Die Kamera hat Zeit. Wir auch. Da sieht man die Nebel wallen und sagt sich, gleich ist die ganze Leinwand im Nebel. Und so ist es auch. Nichts dagegen, denn das Verdichten von Nebelschwaden, bis die ganze Leinwand – und die ist im Berlinale Palast riesengroß – durch Nebel verhüllt ist, das hat schon was. Aber was bedeutet der Nebel? Er kann verhüllen und mich schützen, er kann aber auch den Weg, den ich gehen will, unsichtbar machen und ins Nichts führen.

So viel Gedanken muß man sich gar nicht machen, sondern das Bild genießen, denn wir wohnen einem echten Gewitter bei, wo der Regen so einsetzt, als ob Weltuntergang wäre und es erst einen Donnerschlag tut und dann einen extrem lauten Schreib durch Wind und Wetter, der nur eines heißen kann, entweder ist gerade jemand ums Leben gekommen, oder ein Kind ist unter Schmerzen geboren worden.

Es muß das Letztere sein, denn in der nächsten Szene sehen wir einen Mann namens Elias (Argyris Xafis ), der ein Neugeborenes auf seinem Arm trägt und ihn einer Frau übergibt, die die seine ist. Es sollen die Achtziger Jahre sein. Die beiden werden das Kind als Jon aufziehen, groß geworden wird er durch Aliocha Schneider verkörpert. Und was war mit dem Schwarzhaarigen? Der kommt eines Tages daher, mit Brille und wirft einen Blick auf Jon, erst einen, dann viele, dann nähert er sich, immer näher, Jon wehrt ihn nicht ab, doch als aus dieser Nähe vom Fremden aus ein Kuß entstehen soll, weist Jon ihn scharf zurück, schlägt gegen seine Brust, der Kerl kommt ins Wanken und fällt mit der Schläfe auf einen Stein. War er tot? Eigentlich ja, denn einmal lag das Opfer mit zerschlagenem Schädel und dann sah ich Jon doch darauf im Gefängnis mit blutenden Füßen. Um die kümmert sich die Gefängniswärterin Iro (Agathe Bonitzer). Erst um die Füße, dann um den ganzen Mann. Die beiden werden ein Paar.

Wann sang er? Denn er sang wie ein Countertenor, also die Stimmlage, die in den Barockzeiten herangezüchtet wurde, um hohe reine Männerstimmen zu erzeugen. Ab da kam Musik. Endlich. Denn vorher wurde kaum gesprochen und Musik macht alles erträglicher und sinnvoller auch. Verschiedene Barockkomponisten konnte man heraushören, doch außer der persönlichen Freude am Klang, erschließt sich der Zusammenhang zwischen Handlung und Musik nicht.

Stilistisches Prinzip des Films ist das Anhalten von Mimik, eine gewisse Erstarrung im Blick, der sich in die Ferne richtet, auch Starre in den Körperpositionen, so wie ein fortlaufenden Bild kurz angehalten wird, aber ins Nichts weist. Das gibt den Szenen und dem Blick eine Bedeutungsschwere, die mit bedeutungsschwanger zutreffender bezeichnet ist. Man ahnt, da ist was, soll was sein, weiß aber nicht, was. So erschließen sich auch die Kothurne, die die Gefangenen beim Duschen tragen, nicht recht. Sie sollten doch nicht den Schutz vor Duschwasser andeuten? Kothurne – in der griechischen Tragödie hatten Männer auch die Frauenrollen zu übernehmen – sind ein Theaterrequisit mit hoher Bedeutung. Aber im Gefängnis? Und dann sind sie auch schon weg.

Auch die aufgelassenen Bienenstöcke erschließen sich nicht. Die liegen mal Gefäß, mal Deckel in der Gegend rum. Gibt es keine Bienen mehr, oder was sollen sie bedeuten? Doch ehe wir uns weitere Gedanken machen, sind wir in Berlin. Nicht nur großer Ortssprung, auch großer Zeitsprung, denn wir sind im Heute. Das sieht man deutlich und liest auch POTSDAMER PLATZ.

Wieder gibt es einen Unfall, einenToten, doch als Jon zur Polizei geht, will ihn keiner anhören. Er entfernt sich wieder, jetzt mit der Gewißheit, daß es eine Mutter war, die er umgebracht hatte?! Die Ehefrau bleibt bei ihm.

Foto:
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Info:
Stab
Regie       Angela Schanelec
Buch        Angela Schanelec
Kamera   Ivan Marković

Darstellerin
Aliocha Schneider (Jon)
Agathe Bonitzer (Iro)
Marisha Triantafyllidou (Merope)
Argyris Xafis (Elias)
Frida Tarana (Phoebe mit 6)
Ninel Skrzypczyk (Phoebe mit 14)
Miriam Jakob (Marta)
Wolfgang Michael (Hugh)