202307350 1Jenseits des Wettbewerbs (3)

Hanswerner Kruse

Berlin (Weltexpresso) - Seit über 40 Jahren werden auf der Berlinale in der Sektion „Generation“ Kinder- und Jugendfilme gezeigt, die mit gläsernen Bären juriert werden. 

 

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Die Übergänge zum Großen Wettbewerb oder anderen Sektionen sind fließend, weil auch dieses Angebot für Große interessant ist - oder umgekehrt, Probleme von jungen Leuten ja auch in „Erwachsenenfilmen“ thematisiert werden. Das schönste Beispiel ist der alles überragende, autobiografisch eingefärbte Streifen Steven Spielbergs „Die Fabelmans“ (Bild links), der in der Hommage für den Regisseur auf dem Festival gestern seine deutsche Premiere hatte.



202315222 1Die Coming-of-Age-Werke greifen Themen und Probleme von Kindern und Heranwachsenden auf: Verlust geliebter Menschen, Zerfall der Familie, sexuelle Orientierung, erste Liebe, Mobbing in der Schule. Wie man erwachsen wird, erzählen die Filme nicht schlaumeierisch mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit toller Bildsprache und überraschenden Wendungen - und sie führen uns auch in fremde Kulturen. Die fünfzehnjährige australische Indigene Murra (Bild links) bekommt durch eine Fotosafari eine Beziehung zu ihren Ahnen und findet ihre Passion im Fotografieren („Sweet As“).


Etliche Filme unternehmen eine Gratwanderung zwischen Realität und Fiktion. Die zwölfjährige Lena beispielsweise kann den Tod ihres geliebten Vaters beim nächtlichen Fischfang nicht überwinden und ist davon überzeugt, dass ihn ein Seemonster in großer Tiefe gefangen hält. Doch nach zahlreichen dramatischen „Befreiungsversuchen“ muss sie weinend erkennen: „Er ist tot, er kommt niemals wieder“ („Zeevank“).

Vielfalt und Kontraste des Angebots kann man durch zwei Beispiele verdeutlichen: Romy sucht mit ihrem neuen Wellensittich im Käfig, den entflohenen Vogel Mimi. Bei der Suche im Wald passieren seltsame Dinge: In einem alten Bunker wartet ein Soldat der deutschen Wehrmacht auf den Frieden. In einer stillgelegten Fabrik soll Ihr Sittich eine Katze satt machen. Das Alltägliche wird langsam fremd und eigentlich auch bedrohlich, aber Romy lässt sich keine Bange machen („Mimi“). So konsequent wie sie sind viele Kids in den-Angeboten dieser Sektion. Der extreme Gegensatz zur ruhigen „Mimi“ ist der chinesische 3D-Animationsfilm „Shen Hai“, in dem ein Junge in den Weltmeeren nach seiner verschwunden Mutter sucht. Ob er sie wiederfindet weiß man nicht, denn nach einer Stunde musst man aus diesem überwältigenden Bilder-Massaker fliehen. Die grässlich knallbunte Mischung aus rasendem Computerspiel, hektischen Verfolgungsjagden und wilden Videoclips macht seekrank und ist nicht lange auszuhalten.

202301275 3Von den 56 Lang- und Kurzfilmen der „Generation“ kommen viele nicht in die Kinos, einige laufen vielleicht im TV. Aber ein echter Coup ist der Berlinale mit der Weltpremiere des Films „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ (Bild rechts) in dieser Sektion gelungen. Er ist die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Schauspieler Joachim Meyerhoff, der in seiner Kindheit inmitten vieler „Verrückter“ in einer Psychiatrie aufwuchs: „Hände hoch“, schreit jemand. Security-Männer zerren den Ministerpräsidenten, der die Klinik besucht, in den Schlamm. Doch der vermeintliche Attentäter ist nur ein fröhlicher Patient, der wieder seine Späßchen macht.

In den 1970er-Jahren herrschten grauenhafte Zustände in den westdeutschen Irrenanstalten. Doch in dieser Klinik wurden die psychisch Kranken durch Meyerhoffs Vater einfühlsam und mit Respekt behandelt. Für den Jungen waren die Menschen mit ihren bizarren Verhaltensweisen - unter dem psychiatrischen Schutzschirm - Teil der Familie und völlig „normal“. Der Film schafft es, die im Buch mit großartiger Sprache berichteten Erlebnisse des Autors, in eine angemessene cineastische Erzählweise zu verwandeln.

In „Generation“ werden Schulklassen aufwendig pädagogisch betreut und die Erfahrungen des jungen Publikums evaluiert. Vor der Pandemie besuchten bis zu 50.000 große und kleine Leute die angebotenen Filme. Auch der Bereich „Retrospektive“ widmet sich in diesem Jahr mit 30 Klassikern dem Jungsein und Erwachsenenwerden, etwa durch „Denn sie wissen nicht was sie tun“ mit James Dean.

Fotos:
Oben © 2023 Beijing October Media 
"Die Fabelmans" © Storyteller Distribution Co.
"Sweet As" © Nic Duncan / Arenamedia Pty Ltd
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ © Komplizen Film / Warner Bros. Entertainment Frédéric Batier

Info:
„Wann wird es wieder so, wie es niemals war“, Regie Sonja Heiss, Kinostart seit 23. Februar
„Die Fabelmans“, Regie Steven Spielberg, Kinostart am 9. März