maiSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. März 2023, Teil 1

Redaktion

Paris (Weltexpresso) -  Wie war Ihre erste Begegnung mit Georges Simenon?

Wenn meine Eltern in den Urlaub fuhren und meine Großmutter auf uns aufpasste, brachte sie Bücher von Simenon mit, vor allem die Maigret-Romane. Sie ließ sie auf ihrem Nachttisch liegen und ich las einige von ihnen. Ich fand sie großartig, traute mich aber nicht, sie richtig zu lieben, weil ich mir einredete, dass es sich nur um „leichte Literatur“ handelte. Als ich in der 12. Klasse war, sagte mein Philosophielehrer: „Wir werden einige Zeit mit Descartes, Hegel, Kierkegaard und Kant verbringen, aber Sie sollten wissen, dass der größte Philosoph für mich Georges Simenon ist“. Plötzlich wusste ich, dass ich diesen Autor zu Recht geschätzt hatte, mein Lehrer hatte ihn legitimiert. So begann ich, Simenon weiterhin regelmäßig zu lesen und liebte ihn noch mehr.

Was interessiert Sie an seinem Werk?

Was mir von Anfang an gefiel, war seine beinahe filmische Schreibweise: Simenon stellt normale Menschen, die auf den ersten Blick keine Story haben, in den Mittelpunkt. Erst im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass auch diese Menschen eine Story haben. Die Atmosphäre, die Orte, die Gefühle, das Unbehagen und diese oft erschütternde „Besetzung“ rissen mich mit und berührten mich.


 Es kommt selten vor, dass man diesen emotionalen Aspekt in Kriminalromanen findet, selbst bei den größten Autoren.

Ich war auch von der Wortökonomie, der Prägnanz und Simenons Fähigkeit, großartige Welten und seltsame oder schroffe Charaktere mit einem Minimum an Worten zu beschreiben, angetan. Seine Bücher sind nie länger als 200 Seiten und geradezu vorbildlich geschrieben.


Sie haben bereits vor etwa 30 Jahren mit DIE VERLOBUNG DES MONSIEUR HIRE (1989) eines seiner Werke auf die Leinwand gebracht.



Das war etwas ganz Besonderes, denn ich kannte PANIK (1946) von Julien Duvivier, einem meiner Lieblingsregisseure, ohne zu wissen, dass es sich dabei um eine Verfilmung von „Die Verlobung des Monsieur Hire“ handelte. Zum Spaß – und ein wenig provokativ – sagte ich, dass ich gerne ein Remake von PANIK drehen würde. Aber nach EIN UNZERTRENNLICHES GESPANN (1987) wies mich der Produzent Philippe Carcassonne darauf hin, dass ich kein Remake drehen müsse, sondern eine neue Adaption! Ich fiel aus allen Wolken, denn ich wusste nicht, dass es sich um einen Simenon handelte, und natürlich stürzte ich mich auf das Buch! Ich war also von der Geschichte angezogen ohne zu wissen, von welchem Autor sie
stammt.


Obwohl es sich nicht um eine Simenon-Verfilmung handelt, ist DAS ZWEITE LEBEN DES MONSIEUR MANESQUIER (2002) von einer Atmosphäre erfüllt, die sehr an den Autor erinnert...


Als ich das Drehbuch mit Claude Klotz geschrieben habe, habe ich nicht darüber nachgedacht. Dennoch schwebt Simenons Schatten über dem Film und vor allem über dem Originaltitel „L'homme du train“, der sehr „simenonisch“ ist. Simenon wählte offensichtliche Titel, wie die Impressionisten, die, wenn sie ein Mädchen mit rotem Hut darstellten, ihr Bild mit „Das Mädchen mit dem roten Hut“ betitelten. Bei Simenon hat mich die Selbstverständlichkeit des Titels schon immer begeistert.


Warum haben Sie sich dafür entschieden, „Maigret und die junge Tote“ – zweifellos eines seiner dunkleren Werke – zu verfilmen?

Jérôme Tonnerre, mit dem ich mehrere Filme geschrieben habe, und ich teilen die gleiche Bewunderung für Simenon und hatten große Lust, in seine Welt einzutauchen. Jérôme machte mich darauf aufmerksam, dass Maigret seit 1958 nicht mehr verfilmt worden war. Wir wollten also einen „Maigret“-Roman verfilmen. Aber wir wollten, dass die Handlung in Paris spielt, weil Maigret in meinen Augen mit bestimmten symbolträchtigen Orten wie dem „Quai des Orfèvres“ oder dem Batignolles-Viertel verbunden ist. Jérôme stieß dann auf „Maigret und die junge Tote“, das ich nicht kannte: Als ich es las, drängte es sich wie von selbst auf.


Warum war das so?

In den „Maigret“-Romanen tritt die Krimihandlung ein wenig in den Hintergrund und ermöglicht es, ein Universum zu beschreiben, Figuren einzuführen oder ein Quartier darzustellen. In diesem Opus findet man neben der Vorliebe des Autors für die Erkundung unterschiedlicher Welten auch einen neuartigen emotionalen Reichtum: Maigret begibt sich nicht so sehr auf die Suche nach dem Mörder, sondern nach dem mit Messerstichen übersähten jungen Mädchen, das niemand zu kennen scheint. Ich fand das umso erschütternder, weil Maigret selbst eine Tochter in diesem Alter gehabt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre.
 
Worauf haben Sie und Jérôme Tonnerre bei der Adaption besonders geachtet?

Ich erinnere mich an einen Moment in meiner Zeit als Filmstudent, als Jean-Claude Carrière mit uns über die Kunst der Adaption sprach, ausgehend von TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE (1964), das er selbst von Octave Mirbeau für Buñuel adaptiert hatte. Er hat uns gesagt: „Um ein Buch, das man liebt, erfolgreich zu adaptieren, muss man es mehrmals lesen, dann zuklappen und nie wieder aufschlagen.“ Wir befolgten seinen Rat und schrieben auf der Grundlage unserer prägnantesten Erinnerungen an das Buch eine Adaption, die sowohl treu als auch untreu war. Was mich sehr gefreut hat, war die Reaktion von John Simenon, dem „Tempelwächter“ des Werks seines Vaters, von dem bekannt war, dass er auch DAS ZWEITE LEBEN DES MONSIEUR MANESQUIER sehr mochte. Er war der Meinung, dass wir uns Freiheiten genommen hatten, die sein Vater geliebt hätte.


Welche Freiheiten waren das?

Unser Fokus lag auf der Suche Maigrets nach der jungen Toten, an die sich niemand zu erinnern scheint. Damit wir uns auf seinen Weg konzentrieren konnten, haben wir viele Nebenfiguren gestrichen. Um uns von der altbekannten Maigret-Ausrüstung mit Hut, Pfeife und Mantel abzuheben, die ich nicht mehr ertragen konnte, weil sie so konventionell ist, hatten Jérôme Tonnerre und ich die einfache Idee eines Arztes, der dem Kommissar rät, nicht mehr zu rauchen. Man sieht, wie er noch bedauernd an seiner Pfeife herumfummelt. Das ist ein integraler Bestandteil des von Depardieu verkörperten Maigret, der sich von den üblichen Darstellungen entfernt. In diesem Sinne heißt der Film auch nüchtern „Maigret“ und nicht „Maigret und die junge Tote“, um klar zu machen, dass es sich um unseren Maigret handelt und nicht um den aus früheren Verfilmungen.


Wir tauchen sofort ein in ein gespenstisches Paris, das in einem fast expressionistischen Stil gefilmt wurde...

Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Film wie das Buch in den 1950er Jahren spielt. Dennoch hatte ich schon immer eine Abneigung gegen allzu minutiöse Nachbildungen, bei denen ganze Straßen mit Fahrzeugen aus der damaligen Zeit bevölkert sind, denn diese übertriebene Sorgfalt, die der Ausstattung gewidmet wird, lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers vom Wesentlichen ab. Zwar handelt es sich um die 50er Jahre, aber ich wollte, dass der Film in Bezug auf die Inszenierung, das Licht, die Requisiten und die Kostüme sehr stilisiert ist. DAS ZWEITE LEBEN DES MONSIEUR MANESQUIER sollte ein zeitloser Film werden, und wir hatten uns einen Spaß daraus gemacht, die chronologischen Anhaltspunkte zu verwischen.
Bei MAIGRET waren wir etwas mehr verpflichtet, den Film genau zu datieren: Es gibt also keine anachronistischen Requisiten, aber auch keine zwanghafte Rekonstruktion, da man als Regisseur sonst zum Museumswärter wird.


Die Klassenverhältnisse und die von der Bourgeoisie zur Schau getragene Verachtung stehen im Mittelpunkt des Films.

In diesem sehr wohlhabenden bürgerlichen Milieu fungiert Maigret als Eisbrecher. Wäre er ein Kommissar, der auf die Sitten und Gebräuche einer gehobenen und reichen Schicht achtet, hätte er vor ihnen seinen Hut gezogen. Aber Maigret zieht auf keinen Fall seinen Hut, auch nicht vor den Reichen. Seine unkonventionelle und respektlose Seite verleiht der Figur Profil und degradiert die Bourgeois zu einer Klasse, die man nicht über das notwendige Maß hinaus berücksichtigen muss. Auch wenn Maigret mit seinem Vorgesetzten spricht, legt er weder seinen Mantel noch seinen Hut ab, als wäre er nur auf der Durchreise.


Auch die reiche bürgerliche Familie verbirgt unaussprechliche Geheimnisse...

Wenn diese Szenen tatsächlich gezeigt worden wären, wäre das Ergebnis unerträglich gewesen und ich hätte es als selbstgefällig empfunden. Wie auch immer, es gibt einen Standpunkt und nur einen – den des Kommissars Maigret. Um streng zu sein, war es undenkbar, Szenen zu drehen, bei denen Maigret nicht anwesend ist, es sei denn, man berichtet ihm davon. Man kann die Perversion weit treiben, ohne sie zu zeigen. Außerdem, so sagt Maigret, urteilt er nicht, auch nicht über bürgerliche Männer, die abartige Sexualpraktiken ausüben. Aber wenn er die Frage „Warum heiraten Sie, wenn Sie den Körper einer Frau nicht berühren können?“ stellt, ist das von einer Brutalität, die die ich großartig finde..

Fortsetzung folgt

Foto:
©Verleih

Info:
Stab

Regie Patrice Leconte
Produktion Jean-Louis Livi
Drehbuch und Adaption Jérôme Tonnerre, Patrice Leconte
- Nach dem Roman „Maigret und die junge Tote“
von Georges Simenon

Darsteller
Maigret Gérard Depardieu
Betty Jade Labeste
Jeanine Mélanie Bernier
Madame Clermont-Valois Aurore Clément
Kaplan André Wilms
Docteur Paul Hervé Pierre
Louise Clara Antoons

Abdruck aus dem Presseheft