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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 6. April 2023, Teil 19

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein raffinierter Film, der ganz einfach daherkommt, fast dokumentarisch. Aber er hat’s in sich und bringt einen ins Grübeln. Was ist Realität, was Erfahrung, was Lüge, was Wahrheit?

Igor (Gleb Kuchuk) liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Er ist überfallen worden, zusammengeschlagen worden und die Verletzungen sind so stark, daß ihm eine Niere entfernt werden muß. Er ist mit seiner Mutter Irina (Vita Smachelyuk) aus der Ukraine nach Tschechien in diese Kleinstadt gekommen – und dann so was. Die Polizei reagiert. Kommissar Igor (Gleb Kuchuk) kommt ans Krankenbett. Schon zuvor hatte der Junge gegenüber seiner Mutter geschwiegen. Aber als sie ihm auf Ukrainisch – es gibt zwei Fassungen, einmal Original mit deutschen Untertiteln, einmal auf Deutsch, wo nur das Ukrainische Untertitel hat – zuflüstert, er müsse keine Angst haben, er sei in Sicherheit, antwortet er auf die Frage, wieviele ihn angegriffen hätten: „Drei“.

Ab jetzt ermittelt der Kommissar und als erstes nimmt er den ältesten Sohn der Nachbarn im Haus fest. Daß diese Familie Probleme macht, erlebt Irina – und wir mit ihr – von Anfang an. Sie machen, was sie wollen, lassen das Wasser überlaufen, sperren Irina ein, wenn sie sich beschwert. Es ist eine Roma-Familie. Typisch sozusagen. Und als wir uns so richtig mit dieser sympathischen aufopferungswilligen Irina identifiziert haben, die Mutter eines armen Opfers, da wird alles auf den Kopf gestellt. Denn der Sohn gesteht ihr, daß er im Übermut, um einer kleinen Freundin zu gefallen, auf dem Geländer im Treppenhaus runterrutschte, abstürzte und gewaltig die Treppe hinunterfiel.

Damit kehrt sich für den Zuschauer alles um. Die arme Roma-Familie. Typisch, daß deren Junge verdächtigt wurde. Und Irina? Die ist erst starr, denn längst sind ja mit ihr Interviews gemacht worden, Zeitung, Fernsehen, alle berichten. Die Bürgermeisterin sorgt für eine bessere Wohnung, eben: ohne Roma-Familien. Sie hat von der Stadt außerdem Geld bekommen, das sie für den Frisiersalon, den sie mit ihrer Freundin eröffnet, braucht. Und jetzt? Doch, Irina ist eigentlich eine ehrliche Haut. Sofort will sie dem Kommissar die Wahrheit sagen, bzw. will, daß Igor es tut. Er hat Angst vor den Folgen. Sie schlägt vor, von hier wegzuziehen. Aber er fühlt sich ja durchaus zu Hause. Er kehrt sich alles um. Denn auf einmal setzt er seine Mutter unter Druck und erklärt ihr, er werde dem Kommissar erzählen, daß er auf ihre Weisung die Falschaussage machte. Das langt. Irina hat keine Wahl, sie spielt mit, aber als sie in einer von den nationalen Rechten organisierten Kundgebung äußert, daß die Polizei den Nachbarsjungen für den Täter hält, der aber unschuldig ist, wird gebuht.

Dieser Film zeigt einem wiedermal, was Fiktion psychologisch vermag. Erst erzählt er alles aus der Perspektive von Irina, mit der wir mitfühlen und obwohl sie auch später im Mittelpunkt bleibt, werfen doch die neuen Informationen über die Lüge des Knaben auch auf Irina ein schlechteres Licht, obwohl sie ja trotz persönlicher Einbußen – so sagt sie ihrer Freundin, daß sie das Geld der Gemeinde zurückgibt, was sich negativ auf den Frisiersalon auswirkt – eigentlich die Wahrheit sagen will. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so.

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Verleih

Info:

Slowakische Republik, Tschechische Republik, Deutschland 2022 / 91 Minuten /
Originalfassung (Ukrainisch/Tschechisch) mit deutschen Untertiteln und  teilsynchronisierte Fassung / Originaltitel: Obeťb

Stab

RegiekommentarMICHAL BLAŠKO
Drehbuch JAKUB MEDVECKÝ

Darsteller

Irina VITA SMACHELYUK
Igor GLEB KUCHUK
Officer Novotný IGOR CHMELA
Selský VIKTOR ZAVADIL
Irinas Freundin INNA ZHULINA