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Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom Donnerstag, 1. Juni 2023, Teil 1

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Eigentlich möchte man sagen: Gehen Sie doch selbst ins Kino, denn dieser Film sprengt die herkömmlichen Genres und darum auch herkömmliche Rezensionen, er ist alles auf einmal: Komödie, Tragödie, Musikfilm, Ballett und Musical auch. Er hat eine durchgehende Handlung, ist aber gleichzeitig episodenhaft und das Sensationelle daran ist, daß übersinnliche Momente die Handlung unterbrechen, ja leiten, man lange rätseln darf und am Schluß alles weiß.

Fulminanter Anfang. Auf einer riesigen Blutlache tanzen zu Monteverdi Tänzer. Einfach so. Das wird ein Prinzip des Films, daß die Filmhandlung durch Musik, meist Opernarien, unterbrochen wird und gerade dadurch das Geschehen auf eine höhere Ebene gehoben, sozusagen nobilitiert wird. Wie Musik zudem die Menschen zum Besseren verändert, zeigt gleich die nächste Szene. Mit der jungen Estin in einem Callcenter lernen wir Nele kennen, in deren Haut die Sopranistin Miriam Mesak geschlüpft ist. Sie ist die ORPHEA, denn Ranisch hat den Orpheusmythus (die beiden ersten Opern ab 1600 handeln beide von Orpheus und Eurydike, wir kennen nur die von Monteverdi, es gibt insgesamt 68 Opern und über 90 Filme zum Mythos) gewissermaßen gegendert. Und er hat damit das Thema eigentlich erst opernfähig gemacht, denn es sind klassich die Frauen, die in Opern leiden und Opfer sind. Doch erst einmal ist sie nur Nele, die in ihrem Callcenter von der Chefin (Christina Große) stark beobachtet wird, eine köstliche Figur, die die typische Arbeitsantreiberin gibt. Doch als Neles Gegenüber beim Telefonieren aufsteht und Puccini zu singen beginnt, singen alle mit und das Ganze endet mit einem Ausdrucksanz der Chefin, die im nächsten Moment, wenn die Musik aufhört, wieder kleine Gemeinheiten verteilt.

orphea 

Eurydikus, hier Kolja (Guido Badalamenti) genannt, ist gemeinsam mit der despotischen Alten (Ursula Werner) eine kleine, aber erfolgreiche Taschendiebstahlbande und als er Nele antanzt, klaut die Alte deren Portemonnaie. Nele ist vom Tanz, gleich auch vom Tänzer total entzückt, entrückt, sucht ihn dann aber dringlich, als ihr der Diebstahl auffällt. Und damit man die Funktion der Musik und des Singens in diesem Film besser versteht, ein Beispiel. Die großen Gefühle darf Wagner mit der Arie ABENDSTERN aus dem Tannhäuser begleiten. Aber das fängt erst mal mit WIE TODESAHNUNG an.

Wolfram:
Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande,
umhüllt das Tal mit schwärzlichem Gewande;


Der Sänger Konstantin Krimmel steht bei der nachdenklich und traurig wirkenden Alten und als aus dem Tief der Musik Hoffnung auftaucht und sich in freudigem Triumph ergießt,

O du, mein holder Abendstern,
wohl grüsst’ ich immer dich so gern:
vom Herzen, das sie nie verriet,...

sind wir schon längst bei Nele und Kolja, die sich umarmen und von der Musik umarmt werden, der erste Kuß und mehr, gestört von Bildern im Kopf der Nele, die immer wieder einen blutüberströmten jungen Mann zeigen, der sich auch meldet, als die beiden ein Liebespaar werden wollen, doch bleiben ihnen nur Minuten.

butterflyDenn im höchsten Glück macht es Kreisch und Platsch und Kolja liegt überfahren auf der Straße. Höchste Zeit, das in doppelten Sinne Unterweltpärchen vorzustellen: die exaltierte und durchtriebene, aber auch alles durchschauende Sopranistin Adela (Ursina Lardi) und ihr Mentor und Maker in einem, Sänger-Agent Höllbach, den Heiko Pinkowski (Ranisch-Urgestein) derart vulgär laut und impertinent darstellt, daß man sofort an KIR ROYAL denken muß, was ja keine schlechte Adresse ist. Die beiden sind das Höllenpaar, die zudem Kolja überfahren haben, aber im Film schon vorher auftauchen. Nele, die eine wunderbare Stimme hat, singt nicht nur im Callcenter und überall, sie ist auch Garderobiere in der Oper und schleicht sich, wenn es dunkel wird in den Loge hinein. Als nun Adela als Butterfly Puccinis hinreißende Arie ‚Un bel di vedremo‘ singt (Stimme Eliza Boom), bricht ihr die Stimme. Sie krächzt, Unruhe im Publikum, doch da singt oben im Rang Nele einfach weiter. Brausender Beifall.

Die beiden machen Nele ein Angebot. Sie soll durch sieben Türen gehen, dann wird Kolja wieder lebendig, allerdings muß sie dafür ihr Stimme hergeben: Stimme gegen Leben also, schnell unterschreibt sie. Sieben Türen, da war doch gerade etwas? Ja, der japanische Animationsfilm SUZUME,, wo diese durch sieben Türen gehen muß, um die Welt zu retten. Und auch dort gelingt es.

Wir verfolgen nun den Weg durch die sieben Türen, der Nele an die Küste Estlands versetzt, in ihre Jugend, ihre erste Liebe, sogar eine Hochzeit, Geschichten, die uns enlich ihr Trauma entschlüsseln. Spätestens hier muß man etwas zur wunderbaren Kamera von Dennis Pauls und den ausgewählten Spielorten sagen. Mal lyrisch, mal Autounterführungen, Beton, Kälte, mal der weite Himmel, Meer und Freiheit. Visuell aufregend.

klo 

Und dann hat alles ein Ende. Nele hat wieder ihren Kolja, nur ihre Stimme ist weg. Die hört man dann aus dem Munde von Adela, die als Violetta in Verdis La Traviata im Opernhaus über einer Klo-Schüssel (echt komisch, wie so vieles, einfach originell) Addio del passato (Adieu der Vergangenheit) herzberührend schluchzt.

Ende gut, alles gut? Naja, wenn man seine Stimme hergeben muß, um mit dem Mann, den man liebt, zu leben? Aber das wollen wir heute nicht zu genau nehmen, denn man geht aus dem Film wie auf Wolken, getragen von Musik und ja, von Liebe auch.

Axel Ranisch hat einen Film komponiert..

P.S. Nur als Kolja überfahren wird, gibt es keine Musik.

Foto:
©Verleih

Info:
Stab
Regisseur    Axel Ranisch
Dehbuch.     Sönke Andresen, Axel Ranisch
Kamera.       Dennis Pauls
Musik.          Martina Eisenreich

Darsteller : Mirjam Mesak, Guido Badalamenti, Christina Große, Ursula Werner, Ursina Lardi, Heiko Pinkowski