Bildschirmfoto 2023 07 23 um 23.30.06Die Berliner Filmproduzentin Alice Brauner erzählt die Liebesgeschichte des Künstlerpaars «Münter & Kandinsky» – ein Besuch am Set

Yves Kugelmann

Berlin (Weltexpresso) - Die Urgewalt der Abstraktion sollte das 20. Jahrhundert in der Kunst und weit darüber hinaus verändern. Am Anfang dieser Entwicklung steht die Künstlerbewegung «Der Blaue Reiter». Entstanden ist sie im bayerischen Murnau. Sie war eine Art Revolution, eine Explosion in neue Sphären der bildenden Kunst, hinter die sie schliesslich nie mehr zurück konnte. Weniger abstrakt zeigt sich an diesem heissen Frühsommertag das Filmset zu «Münter & Kandinsky». Die aufwendige Produktion muss mit der Logistik zwischen Basis-station und Drehort zurechtkommen. Dieser ist an diesem Tag der idyllische Eichsee. Er liegt wenige Minuten von Murnau entfernt, dem Ausgangspunkt der Künstlerbewegung und des Kinodramas über das Liebespaar Wassily Kandinsky und Gabriele Münter.

Migrationsrealitäten

Es ist der vorletzte Drehtag. Die Tage davor hat es geregnet, doch die Stimmung am Set ist entspannt. Die Natur spriesst, die Farben präsentieren sich prächtig, nur starker Wind macht der Produktion Sorgen. Produzentin Alice Brauner sitzt konzentriert vor dem Kontrollbildschirm. Sie hat das Drehbuch geschrieben und ist in ihrer Doppelrolle hin und her gerissen. «Ich bin bei meinen Produktionen immer dabei, aber diesmal war es für mich zum ersten Mal bewegend, auch zu sehen, wie meine Worte sich in filmische Realität verwandeln. Aber man ist dabei auch sehr sensibilisiert; man erlebt ein sehr intensives Zusammenspiel zwischen den Funktionen als Drehbuchautorin und Produzentin. Für mich war das eine Herausforderung, auch wenn ich das alles schon beim Schreiben immer visualisieren konnte.» Der Film beleuchtet die zerstörerische Liebe zwischen der deutschen Malerin Gabriele Münter und dem russischen Künstler Wassily Kandinsky rund um Entstehung von Kunst, die schliesslich Weltkunst werden sollte. Kennen und lieben gelernt haben sich die beiden bei Murnau.


Vom Bild zum Film

Durch ein Bild von Münter im Besitz von Brauners Mann und Co-Produzenten Michael Zechbauer ist Alice Brauner auf den Stoff gestossen. «Ich liebe dieses Bild. Ich begann mich mit Gabriele Münter zu beschäftigen, welche aber ohne Wassily Kandinsky gar nicht denkbar wäre. Ich las unzählige Bücher zum Thema und wollte mit meinem so gewonnenen Wissen etwas anfangen.» Schliesslich hat sie sich hingesetzt und ihr erstes Drehbuch geschrieben. Herausgekommen ist ein emotionaler, intimer Einblick in ein faszinierendes und bisweilen tragisches Künstlerleben.

«Dabei habe ich mich sehr stark mit Gabriele Münter zu identifizieren begonnen, weil wir teilweise das Gleiche erlebt haben», sagt Brauner und fügt als Verfechterin von Gleichberechtigung und Frauenrechten an: «Die Beziehung zwischen Münter und Kandinsky war in der Tat eine vergiftete – das geht aus Briefwechseln verschiedener anderer Gruppenmitglieder klar hervor. Münter war eine sperrige Person. Ein mir wichtiger Aspekt für diesen Film war, ihn nicht aus heutiger, zeitgenössischer Sicht zu erzählen, weil sie nicht im heutigen Sinne eine emanzipierte Frau war. Für die damaligen Verhältnisse war sie dies allerdings hochgradig, und doch war ihr nichts wichtiger, als ein bürgerliches Leben zu führen. Also Kandinsky zu heiraten und vielleicht eine Familie zu gründen. Aber in der Kunst war sie ganz anders.»


Filmfamilie

Alice Brauner wurde das Filmemachen in die Wiege gelegt. Doch mit diesem Stoff hat sie sich kreativ endgültig von ihrem Vater, dem 2020 verstorbenen Filmproduzenten Artur Brauner, emanzipiert. Seinen Geschäftssinn hat sie behalten als erfolgreiche internationale Produzentin, als Leiterin der Studios in Spandau oder mit der Verwaltung von Filmrechten: «Ich habe von meinem Vater gelernt – und das bewahrheitet sich jeden Tag aufs Neue: Wenn du Kino machst, vergibst du die Rechte auf Jahre, aber sie kommen auch mal zu dir zurück.» Die CCC-Produktion lebt heute zu einem wesentlichen Teil auch von einem Portfolio mit 260 Filmen und ermöglicht Alice Brauner engagierte Filme ohne Blick auf den reinen Kommerz.

Die Szene ist inzwischen abgedreht. Kandinsky-Darsteller Vladimir Burlakov läuft vorbei, umarmt Alice Brauner. Burlakov ist jüdischer Abstammung und als sogenannter Kontingentflüchtling Anfang 1990er Jahre nach Deutschland gekommen. «Was, du bist jüdisch?», sagt Alice Brauner lachend. «Das wusste ich nicht.» Beide sprechen über ihre Flucht- und Migrationserfahrung in den Familien, über den aktuellen Krieg in Europa und die erneuten Flüchtlingsbewegungen aus dem Osten. Die Produktionsleitung unterbricht. Die nächste Szene steht an. Burlakov macht sich auf zu Münter-Darstellerin Vanessa Loibl. Sie ist konzentriert. Die erste Liebesszene steht an. Kandinsky steht am Steg, Münter plantscht im See. Danach kommen sich beide am Ufer näher. Loibl ist fokussiert, das Wasser eiskalt.


Ein Film für alle

Michael Zechbauer ist inzwischen am Set angelangt. Er war selbst Künstler, ist in der Gegend aufgewachsen und eng mit ihr verbunden: «Als ich mit meiner Kunst ins Galeriegeschäft gelangte, rutschte ich in einen Markt rein, der eigentlich mit einer künstlerischen Freiheit nichts mehr zu tun hat. Das hat mich davon weggebracht und heute liebe ich Kunst als Sammler.» Auf jeden Fall kämpft Zechbauer für den Stoff. «Ich hoffe, dass wir nicht nur Kunstinteressierte, sondern ein bisschen mehr Publikum in der ganzen Welt mit diesem Film abholen können.»

Die leidenschaftliche Liebes- und Künstlerbeziehung von Münter und Kandinsky steht im Film über allem. Dass beide letztlich Mitbegründer des «Blauen Reiters» waren, beleuchtet der Film nicht aus der Retrospektive. Es wurde eine der berühmtesten lockeren Künstlergruppen der klassischen Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Name geht auf ein Gespräch zwischen Kandinsky und Franz Marc zurück. Kandinsky erinnerte sich 1930: «Den Namen ‹Der Blaue Reiter› erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir blau, Marc Pferde – ich Reiter. So kam der Name von selbst.» Die Bewegung löste sich mit Beginn des Ersten Weltkriegs auf. Kandinsky wurde weltberühmt, bewundert und erfolgreich. Er versprach Münter die Heirat, die Beziehung wurde toxisch, endete in einem Krieg um Bilder. Kandinsky heiratete eine andere, nachdem er die expressionistische Künstlerin Münter in ihren besten Jahren hingehalten hatte. Münter zerbrach an der Beziehung, Kandinsky beschreitete neue Wege im Leben und in der Kunst. Seine Stimmungsschwankungen blieben.

Der «Blaue Reiter» steht für den Beginn der abstrakten Malerei, angefangen mit dem Expressionismus. Die Bewegung mit Künstlern wie Elisabeth Iwanowna Epstein, Maria Franck-Marc, Alexej von Jawlensky, Franz Marc, Arnold Schönberg oder Anhängern wie Paul Klee und Robert Delaunay hat die Kunst des 20. Jahrhunderts verändert.


Fiktion und Wirklichkeit

Das lange Warten zwischen den Szenen gibt Zeit für Reflexion. Alice Brauner sagt über die Kraft dieser Kunst: «Für die Bewegung war das naturalistische Malen mit der Fotografie mit dem Willen, das Seelenleben auf die Leinwand zu projizieren, obsolet geworden. Die Künstler machten sich viele Gedanken über Farbtheorien, über die Wirkung der verschiedenen Farben. Hinter den Gemälden steht eine ganz klare Konzeption.» Brauner hat viel recherchiert, mit unzähligen Experten gesprochen, damit der Film so authentisch wie möglich wird. «Die Lücken müssen wir mit fiktionalisierten Dialogen auffüllen. Denn wir machen einen Spiel- und keinen Dokumentarfilm. Mir war aber wichtig, an so vielen Originalschauplätzen wie möglich mit Originalgemälden zu drehen.» Dann heisst es: «Nächste Szene. Ruhe bitte.» Diesmal sind die Monitore abgeschaltet. Die Liebesszene wird nackt gedreht. Auf einmal wird Abstraktion etwas für jede und jeden am Set. Wie sich das wohl darstellen würde in den Bildern ihrer Zeit? Es ist ganz ruhig. Die phantastische Szenerie mit den hohen Bergen wirkt in die Ruhe des Drehs rein. «Cut! Wir machen das nochmals.» Und so ist wieder Warten angesagt.

«Ich sehe nach dieser Arbeit die abstrakte Kunst mit ganz anderen Augen. Man sollte zwar in einer Analyse eines Bildes oder eines Textes Biografie und Werk immer trennen. Das tue ich aber nicht, und wenn ich mir die Bilder dieser Künstler nun anschaue, sehe ich viel mehr dahinter, kann mich in sie hineinversetzen und verstehen, was sie damit sagen, in welcher Stimmungslage sie sich befanden.» Diese war wahrlich intensiv und emotional, was im Film des Regisseurs Marcus O. Rosenmüller, in dem auch die Schauspiellegende Marianne Sägebrecht mitspielt, mitreissend erzählt wird.

All dies hat Alice Brauner in ein spannendes Drehbuch, einen bildintensiven Film umgesetzt. «Mit diesem Stoff und diesem Team könnte ich noch drei Monate weiterdrehen und die Geschichten von vier anderen Malern des ‹Blauen Reiters› erzählen.» Etwas wehmütig sagt Brauner: «Es war eine so tolle Stimmung und Atmosphäre. Wir haben das alle mitgelebt und mitgeliebt.» In den nächsten Monaten geht’s in den Schnitt und die Postproduktion. Der Film soll im Frühjahr 2024 in Europas Kinos kommen.

Foto:
Alice Brauner und Michael Zechbauer diskutieren in einer Drehpause eine Szene
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 7. Juli 2023 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.