Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Das war eine Überraschung auf der Berlinale - und das gleich doppelt. Da gibt es im Wettbewerb erst einen bewegenden Dokumentarfilm, der stärkere Emotionen wachruft, als die fiktiven Geschehnisse in anderen Filmen, die doch gerade deshalb Spielfilme sind, damit sie die Gefühlsebene der Zuschauer besetzen. Und dann gewinnt dieser Dokumentarfilm - der einzige übrigens, der im Wettbewerb zugelassen war - auch noch den Goldenen Bären! Es geht um eine Hilfsstation für Menschen, denen weithin nicht zu helfen ist und die, mitten in Paris auf der Seine, geschlossen werden sollte und wenn die Vorführung auf der Berlinale und der Goldene Bär ein Argument für die Beibehaltung von ADAMANT wäre und das Anlaufen in den Kinos auch, dann wäre das mehr als Filmkunst. Aber die ist dieser allemal.
Nüchtern beschreibt der Anfang eine merkwürdige Ansammlung von hölzernen Jalousien, die von der Frau, die diese Anlage auf dem Wasser, kein Schiff, kein richtiges Haus, eher ein hölzerner Iglu, per Knopfdruck geöffnet werden und schon sind wir bei der Ankunft von Personen dabei, die hineinkommen, sich begrüßen und in Gruppen agieren. Und vor allem auch Musik machen. ADAMANT ist eine Tagesklinik, die ihresgleichen sucht. Hier kommen Menschen her, die Hilfe brauchen, psychische Hilfe. Manche sind sogar Psychiatriepatienten, manche leben alleine, manche leben in Familie, jeder hat ein anderes Schicksal und ein anderes Problem, aber zusammen sind sie eben nicht mehr so allein und für den Tag bekommen sie die Ansprache und Hilfestellung, mit der sie die übrige Zeit ihrer Probleme eher Herr werden.
So wenigstens äußern sich die vor der Kamera und es sind ausschließlich Besucher, oder sollte man Patienten sagen, die sich den ganzen Film über äußern, wie auch das ADAMANT der einzige Drehort bleiben wird. Aber bei den Erzählungen der einzelnen wird unsere Phantasie angeregt und wir sehen deren Leben selbst wie einen Film im Film im eigenen Kopf.
Die Hilfe, so könnte man sagen, ist dreifach: Schon das Darübersprechen hilft. Dem gilt die Haupthandlung, wenn einzelne ihre Probleme benennen und woran sie im täglichen Leben immer wieder scheitern. Auch, was sie gerne tun und was ihnen gut tut. Die Hilfestellung von anderen, das Verständnis, das man ihnen entgegenbringt, ist ein Zweites, aber nicht zu verachten die dritte Hilfestellung: das Tun. Es sind oft Alltagsprobleme, an denen die Gekommenen scheitern: die Wohnung gekündigt, ein Antrag nicht ausgefüllt, die Mutter verstorben, ach, aus wie vielen einzelnen Unglücken wird dann eine Situation, die nicht mehr überschaubar ist und den Mut nimmt, die Probleme überhaupt anzugehen.
Sicher sind für die Betroffenen die letzteren Hilfestellungen die entscheidenden. Für den Zuschauer des Films allerdings ist es am wichtigsten, wenn die einzelnen von sich und ihren Problemen berichten. Allein, wie sie das tun, mit welcher Zurückhaltung oder mit welchem Sprachfluß, sagt viel aus. Das Entscheidende aber ist beim Zuhören und Zuschauen zweierlei. Es waren fast immer Auslöser, aufgrund derer die Betroffenen merkten, daß sie anders reagieren als andere. Aber es gibt auch Menschen, die mit einer schwachen Psyche geboren werden, so feinfühlig oder auch so wenig ichstark sind, daß sie bei jeder Kleinigkeit zusammenbrechen. Von diesen Schicksale zu hören und den Menschen dabei zuzusehen, ist hart. Erst recht, wenn man bequem im Kinosessel sitzt und nichts machen kann.
Aber das eigentlich Entscheidende für den Zuschauer ist noch ein Weiteres: man spürt, man sieht wie nahe wir alle immer wieder an Grenzen gelangen, an unsere eigenen Grenzen, bis zu der Probleme zu bewältigen sind. Wie wenig es bedarf, daß Grenzen überschritten werden, was beispielsweise bei der Intensität und dem Streß durch die ständige Produktion von Texten über das, was man stundenlang pro Tag sieht, auch bei Filmfestspielen nahe liegt.
Wie Nicolas Philibert seine Langzeitbeobachtung in Aufnahmen wiedergeben kann, zeigt, welches Vertrauen die Sprechenden zu ihm gewonnen haben. Nie hat man den Eindruck, daß hier befragt wird, sondern umgekehrt verspürt man die Genugtuung derer, die über sich reden dürfen, endlich zur Kenntnis und wichtig genommen werden.
Ja, eine solche Einrichtung muß erhalten bleiben und möglichst überall als Anlaufstelle vorhanden sein.
Foto:
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Info:
Regie, Kamera, Schnitt. Nicolas Philibert
Regie unter Mitwirkung von. Linda De Zitter
Kameraassistenz. Rémi Jennequin, Pauline Pénichout, Camille Bertin, Katell Djian